Vorwort und Einleitung

Vorwort

«Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind.» So steht es im Artikel 12 der Bundesverfassung: Es gibt ein Recht auf Hilfe in Notlagen und auf Menschenwürde. Die Bundes­verfassung appelliert also nicht an eine moralisch begründete Solidarität, sondern stipuliert ein Recht auf staatliche Unterstützung für jene, die in Not geraten sind. Nun stellt sich natürlich sofort die Frage, wer hat welchen Anspruch worauf? Und: Wer definiert diese Anspruchsberechtigung in unserer Wohlstands- und Wohlfahrts-Schweiz? Die Beiträge in dieser Untersuchung zeigen auf, wie komplex die Antwort auf diese Frage ist und wie vielschichtig, je nachdem, ob man sie aus einer statistischen, sozialwissenschaftlichen, psychologischen, rechtlichen oder politischen Perspektive betrachtet. Dieser wichtigen interdisziplinär-rationalen Betrachtung steht die soziale Realität gegenüber. Davon zeugen eindrücklich die vier Portraits auf den folgenden Seiten. Viele Menschen in unserer reichen Schweiz kämpfen täglich um ihre Existenzsicherung. Dies ist nicht nur im sozialen und politischen Diskurs von Bedeutung, sondern es stellen sich ganz konkrete Fragen, wie unser Sozialstaat mit der Herausforderung «soziales Existenzminimum» umgehen soll.

Mit ihrer Publikationsreihe zu sozialen Brennpunktthemen setzt die ­Christoph Merian Stiftung anwaltschaftlich ihren Stiftungszweck «Linderung der Noth und des Unglückes» durch Forschung, Thematisierung und Erarbeitung von Empfehlungen um. Sie tut dies von einer neutralen Warte aus, aber deswegen nicht minder engagiert. Im Gegenteil: Gerade wenn es um die Verbesserung der Lebensbedingungen von vulnerablen Menschen geht, sind konkrete Handlungsoptionen gefragt. Die Stiftung wird auch in Zukunft beides tun: Den Handlungsbedarf eruieren und jene Partnerorganisationen unterstützen, die konkret zum Wohle der armutsbetroffenen Menschen handeln. Dazu stehen wir.

Dr. Beat von Wartburg, Direktor, Christoph Merian Stiftung

Einleitung

Was braucht jemand, um in unserer Gesellschaft ein menschenwürdiges Leben führen zu können? Diese Frage lässt sich nicht unabhängig von sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen beantworten. Es ist von Bedeutung, welche Möglichkeiten der Lebensführung überhaupt bestehen und was als erstrebenswert gilt. Menschenwürdiges Leben muss in unserer Gesellschaft mehr sein als die Versorgung mit Nahrung, Wasser, Kleidung, Obdach und Hilfe gegen leicht heilbare Krankheiten. Gleichzeitig kann aber auch nicht verlangt werden, dass eine würdige Existenz erst dann erreicht ist, wenn sämtliche Möglichkeiten der Lebensführung auch möglich sind.

Die Antwort dreht sich daher um das Verständnis eines sozialen Existenzminimums, das neben dem physischen Überleben auch zwischenmenschliche Beziehungen und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Dieses Verständnis lässt sich nicht rein objektiv festlegen, sondern muss das Ergebnis einer gesellschaftlichen Diskussion sein. Und diese kann nur dann angemessen geführt werden, wenn ein Bewusstsein besteht für die Lebensrealitäten jener Mitglieder unserer Gesellschaft, die in materielle Not geraten und in Prekarität leben. Die vorliegende Publikation möchte dazu einen Beitrag leisten. Reale Portraits geben Einblicke in das Leben von Menschen in prekären Verhältnissen, und Fachleute aus unterschiedlichen Disziplinen referieren ihren Kenntnisstand zum Thema.

Die Mitwirkenden haben sich nicht auf ihre individuellen Beiträge beschränkt, sondern sie haben sich in Workshops getroffen und gemeinsame Empfehlungen formuliert. Diese richten sich direkt an jene Akteur:innen des Gemeinwesens, die einen Beitrag leisten können für konkrete Verbesserungen. Und die Empfehlungen sollen als Richtschnur gelten für die Förderung der Christoph Merian Stiftung.

Dr. Alexander Suter, Leiter Abteilung Soziales, Christoph Merian Stiftung