Erkenntnisse und Empfehlungen

Aus den Beiträgen dieser Publikation und deren Diskussion haben die Mitwirkenden in zwei Workshops eine Reihe von Empfehlungen für die Existenz­sicherung formuliert. Diese werden nachfolgend aufgeführt und es werden die Adressat:innen genannt, denen in der Umsetzung eine zentrale Rolle zukommt.

Garantie des Existenzminimums

Die Existenzsicherung hat sich von Almosen und Fürsorge hin zu einem grundsätzlich anerkannten verfassungsrechtlichen Rechtsanspruch entwickelt. In dem über Jahrzehnte gewachsenen und entsprechend komplexen Sozialsystem fehlt es jedoch nicht zuletzt wegen der verteilten Kompetenzen zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden sowie den zurückhaltenden Gerichten an klaren Rahmenbedingungen. Es ist an der Zeit, für die Garantie eines sozialen Existenzminimums klare Rahmenbedingungen zu verankern.

EmpfehlungenAdressat:innen

Einheitliches Konzept der Existenzsicherung rechtlich verankern

In der Schweiz fehlt eine konsistente Existenzsicherungspolitik, hinter der ein einheitliches gesetzgeberisches Konzept steht. Daher soll auf Bundes­ebene ein rechtlicher Rahmen geschaffen werden, in dem die Grundzüge einer menschenwürdigen Existenzsicherung definiert werden. Das Existenzminimum ist dabei in einem sozialen Sinne zu verstehen, welcher neben Gütern des täglichen Bedarfs sowie angemessener Wohn- und Gesundheitsversorgung auch Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe umfasst.

Bundespolitik

Minimalgarantien der Existenzsicherung gerichtlich klären

Die Bundesverfassung und kantonale Verfassungen enthalten eine Reihe von allgemeinen Sozialrechten und Sozialzielen, aus denen sich Minimalgarantien für ein Existenzminimum ableiten lassen. Das Bundesgericht ist bis heute jedoch überaus zurückhaltend in deren Anerkennung. Es ist gerichtlich zu klären, welche konkreten Garantien die Verfassungstexte für ein menschen­würdiges Existenzminimum vorgeben. Dazu müssen geeignete Fälle vor die Gerichte und mittels Beschwerden bis vor Bundesgericht gebracht werden.

Gerichte, Rechtsvertretung

Lücken in der sozialen Absicherung schliessen

Das geltende System für soziale Absicherung ist vielschichtig und lückenhaft. Vereinzelt werden soziale Risiken wie Vereinbarkeit von Arbeit und ­Familie vor allem bei Einelternfamilien oder prekäre Erwerbstätigkeit nicht ausreichend solidarisch abgesichert. Es ist zu prüfen, wie Lücken im Sozialsystem geschlossen werden können, ohne das System noch komplexer zu machen. Dabei sind bereits existierende Vorschläge vertieft zu prüfen, beispielsweise eine Ausweitung des EL-Systems über AHV / IV hinaus («Familien-EL», «EL für alle») oder der Ersatz unterschiedlicher Unterstützungssysteme durch eine allgemeine Erwerbsversicherung. Für das Erkennen von Lücken ist ein regelmässiges Armutsmonitoring sinnvoll.

Bundespolitik, kantonale Politik

Existenzsicherung nicht auf Zivilgesellschaft ­auslagern

Es ist kein Randphänomen, dass Beziehende von Sozialhilfe und Ergänzungsleistungen ergänzende Unterstützungsleistungen von privaten Organisationen beanspruchen, um ihren Existenzbedarf decken zu können. Es steht ihnen auch frei, in Notlagen gänzlich nur auf private Unterstützung zu setzen und keine staatlich finanzierten Leistungen zu beanspruchen. Diese bedeutende Rolle der Zivilgesellschaft muss anerkannt werden. Sie darf jedoch nicht dazu führen, dass Leistungen der Existenzsicherung an private Organisationen ausgelagert werden. Der Staat muss soziale Existenzsicherung gewährleisten können.

Bundespolitik, kantonale Politik, Verwaltung

Bemessung des Existenzminimums

Heute lässt sich nur schwer und in der Regel nur durch einen engen Kreis von Fachpersonen nachvollziehen, nach welchen Methoden die verschiedenen Existenzminima in der Schweiz festgelegt werden. Unklar und uneinheitlich sind auch die sozialpolitischen Überlegungen, welche die Methoden für die verschiedenen Anspruchsgruppen prägen. Es fehlt eine solide und transparent festgelegte Methodik zur Bemessung des sozialen Existenzminimums.

EmpfehlungenAdressat:innen

Existenzminima methodisch solide und transparent festlegen

Die Orientierung an umfrage-basierten Referenzbudgets zur Bestimmung eines Existenzminimums ist eine besonders gut geeignete Methode zur Festlegung des sozialen Existenzminimums. Die Methode wird heute bereits in der Sozialhilfe verwendet. Es ist jedoch darauf zu achten, dass die Referenz­budgets nicht anhand von Einkommensschichten festgelegt werden, die sich selbst in einer Mangellage befinden resp. deren Existenzminimum selbst nicht gesichert ist. Zudem haben die Referenzbudgets das reale Ausgabeverhalten zu berücksichtigen, ebenso vermeintlich unerwünschte Ausgabenpositionen (wie Auto, Alkohol und Tabak).

Bundespolitik, kantonale Politik, Verwaltung, Forschung

Realistischer Existenzbedarf als Massgabe nehmen

Wenn für die Bestimmung des Existenzminimums sehr tiefe Einkommen für die Festlegung der Referenzbudgets verwendet werden oder das Existenzminimum zwingend niedriger angesetzt wird als Löhne im Tieflohnbereich, ergibt sich die Gefahr einer Orientierung an eigentlichen Mangellagen. Aktuell besteht dieses Risiko bspw. beim Existenzminimum der Sozialhilfe, weil sich dieses an den 10 % der einkommensschwächsten Haushalte orientiert. Ein soziales Existenzminimum ist so festzulegen, dass es sich am notwendigen Bedarf für ein menschenwürdiges Leben ausrichtet. Ausgaben für anerkannte Fixkosten im Grundbedarf sowie Mietzinsen und Versicherungsbeiträge müssen geleistet werden können, ohne dass dies auf Kosten bspw. von gesunder Ernährung oder angemessener Kleidung geschehen muss.

Bundespolitik, kantonale Politik, Verwaltung, Forschung

Höhe des Existenzminimums regelmässig überprüfen und aktualisieren

Die definitionsgemäss sehr knapp bemessenen Mittel der Existenzsicherung lassen keinen Spielraum für eine Reaktion auf höhere Teuerungsraten. Weil die Preissteigerungen jüngst gerade bei Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs überproportional stark ausgefallen sind, sind Personen am Existenzminimum besonders stark davon betroffen. Die Grundlagen zur Bemessung des Existenzminimums sind daher regelmässig und bei besonderen Entwicklungen zeitnah an die Preisentwicklungen anzupassen.

Bundespolitik, kantonale Politik, Verwaltung

Persönliche Hilfe als Teil der Existenzsicherung ­anerkennen

Nachhaltige und effektive Existenzsicherung kann anderer Hilfen bedürfen als das Auszahlen von finanziellen Mitteln. Personen in belastenden Lebenslagen sind individuell entsprechend ihren Bedürfnissen zu beraten und zu unterstützen, bspw. bei der Suche nach einer geeigneten Wohnung, in der administrativen Korrespondenz, in der Vermittlung gesundheitsfördernder Angebote und von Rechtsberatung, in der Einkommens- und Budgetverwaltung sowie bei der beruflichen und sozialen Integration. Eine wirksame ­Umsetzung dieses Anspruchs setzt voraus, dass aufseiten der beratenden Stellen genügend Ressourcen und Fachwissen für professionelle Sozialarbeit bestehen.

Bundespolitik, kantonale Politik, Verwaltung, Zivilgesellschaft

Individualisierung des Existenzminimums

Existenzsicherung muss rechtsgleich und ohne Diskriminierung ausgestaltet werden. Es ist daher sorgfältig zu prüfen, welche Faktoren für unterschiedliche Anforderungen an ein menschenwürdiges Leben sorgen, aber auch welche bei der Bemessung nicht berücksichtigt werden dürfen.

Unterstützung für Mehrpersonenhaushalte ­überprüfen

Umfrage-basierte Referenzbudgets werden üblicherweise für Einpersonenhaushalte erstellt und dann mittels einer sog. Äquivalenzskala auf Mehr­personenhaushalte umgerechnet. Dabei sollte berücksichtigt werden, welche Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften möglich und zumutbar sind. Die wissenschaftlichen Grundlagen dieser Skala sind veraltet respektive unklar und daher für eine Neubemessung zu aktualisieren.

Bundespolitik, kantonale Politik, Verwaltung, Gerichte, Forschung

Existenzsicherung an heutige Lebensformen anpassen

Die Unterstützung von Mehrpersonenhaushalten ist davon abhängig, in welchen Beziehungen die Haushaltsmitglieder zueinander stehen. Bedürftige Menschen, die in reiner Zweck-WG mit anderen Personen in einem Haushalt leben, werden anders unterstützt als jene, die bspw. mit Familienmitgliedern zusammenleben. Der dabei massgebende Familienbegriff vermag der gelebten Vielfalt jedoch nicht gerecht zu werden. Die rechtlichen Grundlagen der Existenzsicherung sind so anzupassen, dass auch Lebensformen wie bspw. das Konkubinat angemessen berücksichtigt werden.

Bundespolitik, kantonale Politik, Verwaltung, Gerichte, Forschung

Bedürfnissen unterschiedlicher Altersgruppen Rechnung tragen

Im Sozialsystem wird unterschiedlich damit umgegangen, dass bspw. ein Neugeborenes andere Bedürfnisse hat als ein Teenager, eine erwachsene oder betagte Person. Solchen Unterschieden und besonderen Ansprüchen ist bei der Bemessung des Existenzminimums angemessen Rechnung zu tragen. Insbesondere haben Kinder und Jugendliche ein Grundrecht auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung. Ein Aufwachsen in Mangellagen kann für sie lebenslange negative Auswirkungen haben.

Bundespolitik, kantonale Politik, Verwaltung, Gerichte, Forschung

Längerer Bezugsdauer Rechnung tragen

Niedrige Existenzminima in der Asylsozialhilfe oder in der Sozialhilfe allgemein werden mitunter damit gerechtfertigt, dass sie zur Überwindung von kurzfristigen Notlagen gedacht sind und nicht als dauerhafte Unterstützung. Angesichts eines steigenden Anteils von Personen, die längerfristig auf diese Leistungen angewiesen sind, sind die Bemessungsgrundlagen zu überprüfen und an heutige Realitäten anzupassen.

Bundespolitik, kantonale Politik, Verwaltung, Gerichte, Forschung

Bedingungen des Existenzminimums

Das Existenzminimum ist ein Anspruch, den bedürftige Personen bei Bedarf geltend machen können. Die Gewährung dieses Rechts kann von Bedingungen und der Erfüllung von Pflichten abhängig gemacht werden. Diese dürfen jedoch nicht so ausgestaltet sein, dass sie das Recht auf Existenzsicherung aushöhlen. Fraglich ist daher, welche Bedingungen für die Existenzsicherung angemessen sein können und von welchen Pflichten sie abhängig gemacht werden darf. Wichtig ist jedenfalls, dass die Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen nicht zu Rechtsnachteilen in anderen Bereichen führt, beispielsweise im Migrationsbereich oder beim Bürgerrecht.

Leistungskürzungen auf ihre Verhältnismässigkeit überprüfen

Existenzsichernde Leistungen können bspw. in der Sozialhilfe gekürzt werden, um unterstützte Personen zur Mitwirkung zu bewegen oder um sie für Fehlverhalten zu sanktionieren. Wissenschaftliche Untersuchungen aus dem Ausland weisen jedoch darauf hin, dass Leistungskürzungen von existenzsichernden Leistungen häufig unerwünschte Nebenwirkungen haben – sie können zu Stress, Resignation und Krankheit führen. Es ist wissenschaftlich zu prüfen, welche Wirkungen die Leistungskürzungen im schweizerischen Sozialsystem für Betroffene entfalten, und die Ergebnisse sind angemessen zu würdigen. Besonders zu berücksichtigen sind dabei die Auswirkungen für mitbetroffene Kinder.

Kantonale Politik, Verwaltung, Gerichte, Forschung

Existenzsicherung darf nicht krank machen

Studien zeigen messbar auf, dass der Bezug von Sozialhilfe direkt mit einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes verbunden ist. Der Gesundheitszustand von Sozialhilfebeziehenden ist zudem schlechter als jener von anderen Personen, die am Existenzminimum leben. Die Ursachen dieses ­negativen Zusammenhangs sind zu untersuchen und zu beseitigen.

Kantonale Politik, Verwaltung, Forschung

Steuersystem muss mit Existenzminimum vereinbar sein

Steuergesetzgebung und Bestimmungen rund um das Existenzminimum müssen besser aufeinander abgestimmt sein. Einerseits muss das Existenzminimum steuerfrei sein, d. h. Steuerpflichten dürfen nicht dazu führen, dass jemand weniger Mittel zur Verfügung hat, als die Garantie des Existenz­minimums vorsieht. Andererseits sollen Steuerpflichten im betreibungsrechtlichen und im unterhaltsrechtlichen Existenzminimum berücksichtigt werden.

Bundespolitik, kantonale Politik, Verwaltung, Gerichte

Keine Rechtsnachteile an Existenzsicherung knüpfen

Wer in eine Notlage gerät und deshalb auf existenzsichernde Unterstützung angewiesen ist, soll daraus keine Rechtsnachteile in anderen Bereichen ­erfahren. Rechtliche Verschärfungen, die in den vergangenen Jahren schrittweise im Migrationsrecht und im Bürgerrecht eingeführt wurden, sind deshalb rückgängig zu machen. Bedürftigkeit soll nicht als entscheidendes Indiz für fehlende Integration gelten. Zudem erzeugen solche Regelungen mitunter unbegründete Ängste, welche Betroffene davon abhalten, in einer Notlage Unterstützung zu beantragen (Nichtbezug). Hier stehen die zuständigen Behörden in der Pflicht zu Aufklärung und proaktiver Kommunikation.

Bundespolitik, kantonale Politik, Verwaltung

Rückerstattungspflicht abschaffen, um ­Verschuldung zu verhindern

Wer in eine Notlage gerät und deshalb rechtmässig existenzsichernde Unterstützung bezieht, soll diese aus späterem Einkommen grundsätzlich nicht rückerstatten müssen.

Bundespolitik, kantonale Politik, Verwaltung

Rechtsschutz für Menschen am Existenzminimum

Das heutige Sozialsystem ist überaus komplex, die Rechtsnormen sind vage formuliert und lassen den Behörden und deren Angestellten viel Ermessensspielraum. Gleichzeitig sehen sich unterstützte Personen in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis, weil die Garantie ihres Existenzminimums von der Rechtsanwendung abhängig ist. In dieser Situation ist es wichtig, dass die Verfahren und Entscheide nachvollziehbar ausgestaltet sind und betroffene Personen in ihren Rechten ausreichend geschützt werden.

Kommunikation in verständlicher Sprache und ­zugänglich gestalten

Behördenkommunikation im Zusammenhang mit existenzsichernden ­Leistungen soll in einer angemessenen Sprache verfasst sein. Unterstützte Personen sind allgemein verständlich über ihre Rechte und Pflichten zu ­informieren. Dabei sind auch die Sprachkenntnisse zu berücksichtigen. Zudem ist die häufige Kritik zu würdigen, dass standardmässige Hinweise auf Leistungs­kürzungen und -einstellungen sowie andere Nachteile je nach ­Formulierung abschreckend und zermürbend wirken können. Digitale Kommunikationskanäle sind zu ermöglichen, wobei diese Kompetenzen und Ressourcen voraussetzen, über die nicht alle Menschen in Not verfügen. Behörden müssen daher grundsätzlich über unterschiedliche, auch analoge Kanäle erreichbar sein.

Verwaltung

Niederschwellige Rechtsberatung und -vertretung ­gewährleisten

Aus dem komplexen Sozialrecht und dem Umgang mit Behörden können Konfliktsituationen entstehen, welche die Betroffenen juristisch überfordern und dann wegen fehlender Sachkenntnis schnell zur unterlegenen Partei machen können. Es braucht daher eine niederschwellige (und damit auch kostenlose!) Rechtsberatung und wenn nötig Zugang zu rechtlichem Beistand. Die Beratung soll durch eine angemessen (auch mit öffentlichen Mitteln) finanzierte, aber organisatorisch unabhängige und örtlich sowie zeitlich gut zugängliche Fachstelle erbracht werden.

Bundespolitik, kantonale Politik, Verwaltung, Zivilgesellschaft

Unfreiwilligen Nichtbezug von Sozialleistungen ­verhindern

Existenzsichernde Leistungen werden nicht von allen bezogen, die darauf Anspruch haben. Daher können allenfalls sinnvolle Unterstützungsmassnahmen nicht oder nur verspätet erfolgen, wovon auch Kinder mitbetroffen sein können. Die Gründe für den Nichtbezug können formelle Hürden bei der Geltendmachung der Ansprüche sein, aber auch Ängste vor negativen Konsequenzen oder Unkenntnis. Solcher unfreiwilliger Nichtbezug widerspricht sozialstaatlichen Grundsätzen und verlangt das proaktive Handeln des Staats. Existenzsichernde Leistungen sollen leicht zugänglich und bei allen potenziellen Bezügern bekannt sein. Potenziell anspruchsberechtige Personen sollen proaktiv auf ihre Rechte hingewiesen und bei deren Geltendmachung unterstützt werden.

Bundespolitik, kantonale Politik, Verwaltung