Ethik

Ein Beitrag von Dr. Florian Krause
Institut für Wirtschaftsethik, Universität St. Gallen unter Mitwirkung von Isabel Ebert

In der Ethik stellen wir uns Fragen nach dem, was «gut» ist und nach Begründungen dafür. Dies ist nicht immer einfach, weil vieles von dem, was eigent­lich gesellschaftliche Entscheidungen sind, von uns nicht als solche wahrgenommen werden – für uns sind viele Strukturen einfach Selbstverständlichkeiten oder normal und damit meist auch irgendwo gut. Sie sind das, wovon wir im Leben ausgehen. Die Frage nach Existenzsicherung ist daher sehr voraussetzungsreich und kann kaum isoliert betrachtet werden. Zudem beinhaltet sie ganz unterschiedliche Teilgehalte. Es geht nicht nur darum, was als Grundbedürfnisse anerkannt werden soll, sondern auch, auf welche Weise diese gedeckt werden sollen.

Dass wir in einer Gesellschaft leben, die ein organisiertes Gemeinwesen mit einklagbaren Gesetzen unterhält, ist keine Notwendigkeit. Dem gegenüber stünde ein Leben als Selbstversorger ohne gemeinschaftliche Infrastruktur. In einer solchen Gesellschaft ohne gemeinschaftliche Strukturen gäbe es lediglich die Möglichkeit des direkten Tauschhandels von Produkten und Dienstleistungen, allenfalls mit Währungen, die von allen auch ohne staatliche Institutionen akzeptiert würden (z. B. Edelmetalle). Unseren einklagbaren, rechtlichen Ansprüchen stünde das sogenannte «Recht des Stärkeren» gegenüber. Die Sicherung eines Existenzminimums hinge in einer solchen Gesellschaft am Ende vom Einzelnen ab, vielleicht von seiner Familie und vom sozialen Umfeld oder aber von der Grosszügigkeit Fremder. Dies ist sicherlich aus unserer Perspektive eine Dystopie, jedoch kann es hilfreich sein, sich zu vergegenwärtigen, dass das, was wir in unserer Gesellschaft als normal empfinden, bereits sehr voraussetzungsreich ist.

Interpretation von Grundbedürfnissen

Im Jahr 1948 wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Die Staaten der Vereinten Nationen – zu denen auch die Schweiz seit 2002 zählt – formulieren darin universelle Ansprüche von Menschen. In Artikel 25 heisst es: «Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden einschliesslich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge gewährleistet.» Weiter werden im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966, den die Schweiz 1992 angenommen hat, Rechte auf einen «angemessenen Lebensstandard (…) einschliesslich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung» genannt sowie das Recht, «am kulturellen Leben teilzunehmen».

Für eine Gesellschaft, die sich diesen Rechten verpflichtet hat, ergibt sich die Aufgabe, Wege zu deren Sicherstellung zu finden. Während die genannten Ansprüche selbst wohl breite Gültigkeit beanspruchen können, hängt die Beantwortung der Frage, wann sie als erfüllt gelten, in hohem Mass von den Lebensweisen einer Gesellschaft, ihren Möglichkeiten sowie ihrer Umwelt ab. Selbst innerhalb einer Gesellschaft ist die Interpretation von Grundbedürfnissen keinesfalls statisch, sondern ändert sich stark mit vorhandenen Möglichkeiten und Wertvorstellungen – «Unterbringung» kann das sprichwörtliche «Dach über dem Kopf» sein (z. B. ein Zimmer in einem Armenhaus, wie es sie noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Schweiz gab), eine eigene Wohnung mit Heizung und fliessendem Wasser oder – in einer zunehmend digital organisierten Gesellschaft – auch mit Internetanschluss.

Die Interpretation von Grundbedürfnissen ist eng verbunden mit der Frage nach den Möglichkeiten ihrer Umsetzung. Welche Wege hierzu geeignet erscheinen, hängt ebenfalls stark von den Gegebenheiten und Wertvorstellungen einer Gesellschaft ab. Auch hängt der Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen in vielen Gesellschaften grundsätzlich mit dem individuellen Zugang zu finanziellen Mitteln zusammen. Geld ist in unserem System das Schlüsselinstrument, um den Bedarf an Lebensmitteln, Unterkunft, Kleidung und anderen Grundbedürfnissen zu erfüllen.

Erwartung existenzsichernder Löhne

Falls Geld nicht aufgrund von Eigentum, Erbe und / oder Vermögen zur Verfügung steht, ist bezahlte Arbeit der zentrale Weg, um finanzielle Mittel zu erhalten und damit lebensnotwendige Ressourcen erwerben zu können. Welche Art von Arbeit in welcher Höhe entlohnt wird, ist in unserem System stark von ökonomischen Erwägungen, aber auch von Traditionen abhängig. Bestimmte Arbeit wird beispielsweise gar nicht bezahlt (z. B. Hausarbeit durch Familienangehörige), andere Arbeit ist kaum in eine Marktlogik zu integrieren, etwa wenn sie sich mit öffentlichen Gütern wie Strassen, Gesundheitswesen, Polizei befasst.

Generell ist in unserem System die Arbeitgeberin angehalten, mit ihrer Produktion oder ihren Dienstleistungen Gewinn zu erzielen und effizient zu wirtschaften. Dies führt in den meisten Fällen dazu, dass Arbeit dann attraktiv bezahlt wird, wenn sie sich für die Arbeitgeberin direkt oder indirekt ökonomisch rentiert – wenn also für ein Produkt oder eine Dienstleistung, für welche die Arbeit gebraucht wird, am Markt ein guter Preis zu erzielen ist. Infolgedessen gibt es auch Fälle, in denen die gezahlten Löhne zu niedrig sind, um das Existenzminimum zu sichern. Menschen in einer solchen Situation müssten notgedrungen mehr arbeiten, um insgesamt doch noch ein existenzsicherndes Einkommen zu erreichen.

Jedoch wollen Gesellschaften unter Umständen die Selbstausbeutung durch mehrere jeweils nicht existenzsichernd bezahlte Arbeiten verhindern und greifen zu diesem Zweck zu Massnahmen wie der Deckelung wöchentlicher Arbeitszeiten. Damit einhergehen sollte dann im Gegenzug eine Regelung zu existenzsichernden Mindestlöhnen, ein Kombilohn (Zuschuss zum Lohn, der diesen auf ein Existenzminimum anheben soll), Transferzahlungen oder aber Sachleistungen, die in Kombination mit dem geringen Lohn dann existenzsichernd sind. Hinter diesen Ansätzen liegen jeweils unterschiedliche Entscheidungen über zentrale Grundsätze bzw. Prinzipien einer Gesellschaft und ihrer Wirtschaft sowie über die Rolle individueller finanzieller Mittel bei der Distribution von Gütern.

Wird der Fokus stark auf Existenzsicherung durch Arbeit gesetzt, so geht es um die Sicherstellung, dass bezahlte Arbeit grundsätzlich ein Existenzminimum ermöglicht. Arbeitnehmern muss folglich durch ihre Löhne ermöglicht werden, ihre Grundbedürfnisse zu decken, ohne auf staatliche Unterstützung angewiesen zu sein. Aus Sicht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) der Vereinten Nationen soll ein Mindestlohn die «Bedürfnisse der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen» unter Berücksichtigung weiterer Faktoren sichern. Und natürlich: Verbietet ein Staat (mit guten Gründen) beispielsweise Kinderarbeit, so muss die Existenzsicherung des Kindes anderweitig gesichert sein – entweder durch Transferzahlungen oder eben durch das Einkommen der Eltern. Ähnlich musste in Zeiten, in denen Ehefrauen oft auf Hausarbeit beschränkt wurden, ihre Existenzsicherung ebenfalls durch das Gehalt des arbeitenden Ehepartners gedeckt werden – ggf. flankiert durch steuerliche Entlastungen. Ähnliche Überlegungen gelten auch für das Alter, in dem die eigene Existenz ebenfalls gesichert sein muss, aber oftmals kein Zugang mehr zum Arbeitsmarkt besteht.

Bei einer Existenzsicherung durch Löhne verteuert sich in einer Marktwirtschaft die Herstellung einiger Produkte und Dienstleistungen. In der Folge kann es wiederum zu ökonomischen Verwerfungen kommen, wenn beispielsweise Preise steigen oder sich eine Produktion ökonomisch nicht mehr lohnt. Dann muss neu entschieden werden, ob eine Gesellschaft auf diese Produkte und Dienstleistungen verzichten oder sie dennoch herstellen will – zum Beispiel marktlich durch entsprechende Subventionen oder in staatlich finanzierten Produktionsstätten.

Gesellschaftliche Verantwortung beim Fehlen existenzsichernder Löhne

Alternativen zu existenzsichernden Löhnen bieten Varianten von Kombilöhnen, Beihilfe- oder Transferzahlungen. Beim Kombilohn wird ein nicht existenzsichernder Lohn aus Arbeit durch den Staat auf ein existenzsicherndes Niveau angehoben. Ähnlich heben Beihilfe- bzw. Transferzahlungen das Gesamteinkommen auf ein existenzsicherndes Niveau. Sowohl Subventionen an Unternehmen als auch hybride Ansätze wie der Kombilohn können in einer Marktwirtschaft jedoch auch unerwünschte Mitnahmeeffekte haben. Das wäre dann der Fall, wenn eine Arbeitgeberin bei der Lohnsetzung die staatlichen Transfers einkalkuliert, um einen geringeren Lohn als den marktüblichen zu zahlen. Der Arbeitnehmer hätte durch die Transferzahlungen keine Nachteile, die Arbeitgeberin könnte durch reduzierte Kosten ihren Gewinn erhöhen oder günstiger anbieten – jeweils zulasten des Staates.

In einem System, in dem Existenzsicherung allein über den Lohn funktioniert, ist es natürlich noch wichtig zu klären, wie mit Personen verfahren wird, welche zum Beispiel aufgrund ihres Aufenthaltsstatus, ihres Alters oder aus anderen Gründen keiner Arbeit nachgehen dürfen – oder mit Personen, welche dies aufgrund körperlicher oder psychischer Verfasstheit nicht oder nur mit höherem Aufwand können.

Eine Alternative zur Existenzsicherung durch Arbeitserwerb bietet ein Grundeinkommen. Hier würde jedem ein existenzsicherndes Einkommen zugesichert, das von Löhnen für Arbeit entkoppelt wäre und somit auch die Menschen absichern würde, welche keiner Arbeit nachgehen können. Woran das Recht auf eine solche Existenzsicherung festgemacht würde (Wohnsitz, Staatsbürgerschaft), ist offen. Abgesehen von Fragen der Finanzierung lassen sich die Auswirkungen eines solchen Modells auf eine global vernetzte Wirtschaft schwer prognostizieren. Unterschiedliche Meinungen gibt es vor allem in Bezug auf die Wirkung auf den Arbeitsmarkt sowie die Preisstabilität.

Existenzsicherung in einer Zukunft ohne Arbeit?

Eine grundsätzliche Alternative zur Existenzsicherung durch Geld bestünde darin, den Zugang zu grundlegenden Ressourcen von Geld zu entkoppeln. In einem planwirtschaftlich inspirierten System müsste noch genauer definiert sein, was diese Ressourcen sein sollen und in der Folge, wie diese Produkte und Dienstleistungen hergestellt und verteilt werden können. Ein solches System würde dann an Relevanz gewinnen, wenn man davon ausgeht, dass die Herstellung von Produkten und Dienstleistungen künftig mehr oder weniger vollständig automatisiert wäre. In einer solchen Zukunft wäre der Zugang zu Ressourcen über Geld, das man wiederum durch Arbeit erhält, schwierig, da es kaum noch Arbeit gäbe.

Während aktuell nicht davon auszugehen ist, dass Automatisierung und KI menschliche Arbeit gänzlich überflüssig machen werden, sind doch gewisse Verwerfungen absehbar. Eine Diskussion über die Frage, ob unsere aktuellen Wege der Existenzsicherung absehbare Veränderungen abfedern bzw. wie alternative Möglichkeiten aussehen könnten, erscheint vor diesem Hintergrund sinnvoll.

In unserer komplexen und historisch über lange Zeit gewachsenen Gesellschaft finden sich diverse Elemente der genannten Varianten in Kombination. Es gibt gewisse Regulierungen von Löhnen, Reduktion von Steuern, gewisse Transferzahlungen und auch Sachleistungen – ausdifferenziert nach der Situation der Personen sowie nach den Wertvorstellungen der Gesellschaft. Einfache Konzepte sorgen unter Umständen für Gerechtigkeitsprobleme – zu komplizierte Systeme können oft ihre Funktion nicht erfüllen. Die Diskussion darüber, was heute ein Existenzminimum ist und wie es heute und in Zukunft sichergestellt werden soll, wird immer wieder neu geführt werden müssen.