Gesundheit
Gesundheit und Armut sind in komplexer Weise und nachhaltig miteinander verknüpft. Ein Leben am Existenzminimum geht somit für die Betroffenen mit ungünstigen gesundheitlichen Bedingungen und Konsequenzen einher. Es gibt aber durchaus Möglichkeiten, etwas dagegen zu tun. Ansätze, wie man gesundheitlichen Belastungen, die aus Armut oder Abhängigkeit von Sozialhilfe resultieren, entgegenwirken kann, werden hier kurz eingeführt.
Gesundheit – ein prekäres soziales Gut
Gesundheit wird gemäss WHO-Definition nicht nur als Abwesenheit von Krankheit verstanden, sondern als ein Zustand des physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens. Die WHO bezeichnet bestmögliche Chancen auf gesundheitliches Wohlbefinden gar als ein menschliches Grundrecht, und zwar unabhängig von sozialer Position und beeinflussenden Faktoren wie Rasse, Religion, Geschlecht etc. Die Schweiz verpflichtet sich diesem Grundsatz, der auch beinhaltet, dass Hindernisse möglichst aus dem Weg zu räumen sind.
Dennoch, das zeigt die Forschung konsistent, sind die Chancen auf eine gute Gesundheit sozial ungleich verteilt (Geyer 2021; Levesque et al. 2013; Weber 2020). Eine wichtige Rolle spielen dabei sogenannte soziale Determinanten von Gesundheit. Darunter versteht man Bedingungen, in welche Menschen «hineingeboren» werden, unter welchen sie aufwachsen, arbeiten, ihr Leben führen und alt werden (BAG 2019). Bezeichnend ist, dass Individuen diese Bedingungen nicht immer selbst gestalten und verändern können, auch wenn sie nicht naturgegeben, sondern gesellschaftlich geformt sind. Wie gut ein Kind Bildungschancen wahrnehmen kann, wie das familiäre Umfeld die kindliche Entwicklung prägt, wie hoch die Umweltbelastung im Wohn- oder Arbeitsumfeld ist, wie die Chancen auf Arbeit und Wohnraum verteilt sind oder wie erschwinglich gesunde Lebensmittel – diese Bedingungen wirken sich immer auch auf die Gesundheit aus. Je tiefer der sozioökonomische Status, desto schwieriger ist es für Menschen, sich diesen Auswirkungen zu entziehen.
Fakten zur Gesundheit von Sozialhilfebeziehenden
Sozialhilfebeziehende weisen überdurchschnittlich häufig gesundheitliche Beeinträchtigungen auf (Kessler et al. 2021). Dies insbesondere im Vergleich zu Personen, die zwar auch in finanziell prekären Verhältnissen leben, aber keine Sozialhilfe beziehen. Besonders ausgeprägt sind die gesundheitlichen Belastungen bei Sozialhilfebeziehenden in den Bereichen Lebenszufriedenheit, Schmerzproblematiken und psychische Gesundheit, ebenso sind Mehrfachbelastungen im fortgeschrittenen Alter ausgeprägter. Gleichzeitig zeigen Sozialhilfebeziehende bei Ernährung, Bewegung und Tabakkonsum im Schnitt ein überdurchschnittlich risikoreiches Gesundheitsverhalten. Besonders interessant in der Studie von Kessler et al. ist die deutliche Korrelation von Gesundheitszustand und Sozialhilfeabhängigkeit. Ersterer verschlechtert sich auffällig bei einem Eintritt in die Sozialhilfeabhängigkeit und verbessert sich deutlich bei einem Austritt.
Zudem zeigen Kessler et al. auf, dass die Bedingungen von Sozialhilfe bei Betroffenen häufig zu psychischen Belastungen führen, welche auch die Arbeitsintegration erschweren, wodurch der Kreislauf von Armut weiter angetrieben wird. Neuere Forschung aus dem Gesundheitsbereich macht zudem deutlich, dass höhere gesundheitliche Belastungen eng verzahnt sind mit weniger Ressourcen, um Belastungen abzufedern (Page 2020). Deshalb ist für benachteiligte Gruppen auch der Zugang zu potenziell unterstützenden Angeboten erschwert (Levesque et al. 2013) – ganz dem bereits 1971 formulierten «inverse care law» folgend, nach dem gerade diejenigen, die am meisten von guter Gesundheitsförderung und -versorgung profitieren würden, am wenigsten Zugang dazu haben. Und wenn wir uns vergegenwärtigen, dass soziale Determinanten von Geburt an auf unsere Gesundheit einwirken, so sind im Kontext von Sozialhilfe und Existenzminimum insbesondere auch die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche zu beachten, die in von Sozialhilfe abhängigen Haushalten leben.
Strukturelle Verhältnisse und Prozesse gestalten: der Fokus auf Zugang
Die ungünstigen Auswirkungen von Armut und einem Leben am Existenzminimum auf die Gesundheit wären grundsätzlich vermeidbar, wenn strukturelle Hürden entfernt und Umwelten einladender gestaltet würden. So können beispielsweise sichere Parks und attraktive Spielplätze in benachteiligten Quartieren ein gesünderes Verhalten begünstigen, Läden mit gesunden Lebensmitteln zu erschwinglichen Preisen oder kostenlose Schulmahlzeiten zu einer besseren Ernährung beitragen. Strategien zur Umgestaltung von Verhältnissen können zudem auch auf Lebenslagen und Milieus ausgerichtet sein, indem sie etwa Raum für Vergemeinschaftung, gegenseitigen Support und informelle Wissensvermittlung schaffen. Quartierräume, Treffpunkte oder Peer-Netzwerke sind Beispiele dafür.
Wichtig ist auch eine angepasste Förderung von Gesundheitskompetenz, damit Menschen unabhängig von ihrer sozialen Lage und Bildungsferne ihr Gesundheitspotenzial möglichst effektiv umsetzen können. Gesundheitsförderliche Angebote sollten dafür niederschwellig zugänglich und alltagsnah sein. Wie Zugänge auf verschiedenen Ebenen gestaltet werden können, ist in der Gesundheitsforschung im Levesque-Modell (Levesque et al. 2013) gut ausgearbeitet. Dieses Modell hat das Potenzial, auch auf andere gesellschaftliche Systeme wie das Sozialwesen übertragen zu werden.
Zentral sind daran zwei Elemente: Erstens wird Zugang breit definiert und prozesshaft konzipiert, um zu berücksichtigen, dass unzählige Elemente dazu beitragen, wie offen die Türen eines Angebotes oder eines Hilfesystems für diejenigen sind, die sie nutzen sollen und dürfen. Nicht nur Berechtigung und Öffnungszeiten spielen eine Rolle, sondern auch Erreichbarkeit, Kosten, Vertrauen etc. Und, ganz wichtig: Zugang hört nicht auf, nachdem jemand durch die Tür getreten ist, sondern setzt sich fort auf den einzelnen Stationen des Wegs durch die Prozesse und Teilschritte der Versorgung, bis zum Abschluss und dem hoffentlich erreichten Ziel einer Verbesserung. Gute Versorgungsprozesse und -übergänge, die für Betroffene nachvollziehbar sind, kompetente, vertrauenswürdige Fachpersonen und ausreichend Möglichkeiten der Selbst- und Mitbestimmung tragen dazu bei, wie gut Versorgung einerseits die Bedarfe und Bedürfnisse der Betroffenen berücksichtigen und andererseits schlanke, zielgerichtete Prozesse ermöglichen kann.
Um Systeme auf ihre Zugänglichkeit hin zu analysieren und Veränderungen zu initiieren, zeigt das Modell zweitens auf, dass Veränderungen auf verschiedenen Ebenen ansetzen können und müssen. Auf Ebene der Versorgungsstrukturen bspw. durch Überprüfung von Zugangskriterien wie Öffnungszeiten und Anreisewegen, Ausgestaltung von Empfangs- und Beratungsräumen, Möglichkeiten zur Mitbestimmung und Selbstgestaltung. Die Ebene der Nutzenden eines Angebots oder einer Versorgungsleistung kann bspw. gestaltet werden durch Wissensvermittlung und Befähigung in der Bevölkerung oder in spezifischen Zielgruppen, oder durch Veränderungen in deren Lebenswelten und Lebenslagen. Und die Ebene der Prozesse kann u. a. gestaltet werden durch die Sensibilisierung und Befähigung von Fachpersonen oder die Anpassung der Schnittstellen und Übergänge einzelner Phasen im Prozess (siehe dazu auch das Modell auf S. 5 in Levesque et al. 2013).
Zweifelsohne eine komplexe Geschichte – doch die Stärke dieses systemischen Ansatzes auf Zugang besteht darin, dass er es auch erlaubt, unterschiedliche Elemente eines Versorgungssystems wie bspw. eine einzelne Beratungsstelle, ein spezifisches Informations- oder Selbsthilfeangebot in den Fokus zu nehmen und auf Gestaltungspotenzial hin zu analysieren, was manchmal mit erstaunlich wenig Aufwand viel verändern kann.
Zielgruppenspezifisch, aufsuchend und settingorientiert: die gute Praxis des Intervenierens bei Betroffenen
Im Bereich Gesundheit ist in den letzten Jahren das Erfahrungswissen zu sinnvollen und wirksamen Ansätzen der Befähigung von Menschen in prekären sozialen Verhältnissen gewachsen, entsprechende Erfahrungen sind im Sinne einer guten Praxis dokumentiert und bewährte Grundprinzipien identifiziert (siehe bspw. Walter & Röding 2022 für einen internationalen Überblick; Weber 2020 für die Schweiz).
Drei Grundprinzipien, welche diese gute Praxis kennzeichnen, möchten wir hier kurz hervorheben: Bewährt hat sich ein zielgruppenspezifisches, aufsuchendes und settingorientiertes Vorgehen. Innerhalb eines für alle gleichermassen geltenden grossen Systems – wie dem Gesundheits- oder Sozialwesen – sind für bestimmte Bevölkerungsgruppen besondere Massnahmen nötig, um gesundheitsrelevanten Benachteiligungen entgegenzuwirken. Weil damit ein gewisser Aufwand verbunden ist, braucht es vorab eine sorgfältige Klärung der relevanten Zielgruppen und der Schnittstellen zu praktikablen Interventionen: Wo ist die Belastung besonders hoch und wo überschneidet sich dies mit Möglichkeiten, bei bestimmten Zielgruppen etwas zu verändern? Bei diesem Abwägen von Belastungen und Ressourcen helfen konkrete Bedürfniserhebungen, aber auch bestehendes Forschungswissen und politische Schwerpunktsetzungen.
Der Stand des Wissens legt zudem klar nahe, dass an besonders benachteiligte Menschen gerichtete Interventionen erfolgreicher sind, wenn sie aufsuchend vorgehen. Dies ist nicht nur wichtig, weil die Ressourcen für gesundheitsförderliches Handeln gering sind und deshalb der Aufwand für Betroffene möglichst tief sein sollte, sondern auch, um Vorbehalten und Misstrauen gegenüber Massnahmen des Versorgungssystems entgegenzuwirken und Interventionen sinnvoll in lebensweltliche Kontexte (sog. Settings) einzufügen. Dazu ist es notwendig, sich auf die Lebenswelten und -lagen der Betroffenen einzulassen und bei der Planung und Umsetzung von Interventionen konsequent die Betroffenenperspektive einzubeziehen. Besonders gut gelingt dies durch partizipative Prozesse, die idealerweise bereits bei der Bedarfs- und Bedürfnisanalyse ansetzen und, im Sinne einer befähigenden Orientierung, bspw. auch auf Peer-Ansätzen aufbauen. Kurz gesagt: Nicht «über» die Betroffenen, sondern «mit» ihnen.
Das ist aufwendig, aber wirksam, wie die gute Praxis belegt. Und Investitionen in gesundheitsfördernde Verhältnisse und Verhaltensweisen stehen auch im Einklang mit einer volkswirtschaftlichen Perspektive, denn vor dem Hintergrund stetig steigender Gesundheitskosten sowie eines zunehmenden Innovationsdrucks der Versorgungssysteme liegt insbesondere in hoch belasteten Bevölkerungsteilen wie bspw. Sozialhilfebeziehenden beträchtliches Potenzial für präventive Interventionen brach.
Literaturhinweise
BAG Bundesamt für Gesundheit (2019): Aktivitäten des BAG im Bereich der gesundheitlichen Chancengleichheit, https://www.bag.admin.ch / bag / de / home / strategie-und-politik / nationale-gesundheitsstrategien / gesundheitliche-chancengleichheit / aktivitaeten-zur-foerderung-der-chancengleichheit.html (Zugriff: 23.02.2024).
Geyer, Siegfried (2021): Soziale Ungleichheit und Gesundheit / Krankheit. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, BZgA (Hg.): Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden, Köln, https://leitbegriffe.bzga.de / alphabetisches-verzeichnis / soziale-ungleichheit-und-gesundheit-krankheit/ (Zugriff: 06.03.2024).
Kessler, Dorian; Marc Höglinger; Sarah Heiniger; Jodok Läser; Oliver Hümbelin (2021): Gesundheit von Sozialhilfebeziehenden. Analysen zu Gesundheitszustand, -verhalten, -leistungsinanspruchnahme und Erwerbsreintegration. Schlussbericht zuhanden des Bundesamts für Gesundheit. Berner Fachhochschule und Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften.
Levesque, Jean-Frederic; Mark F. Harris; Grant Russell (2013): Patient-centred access to health care: conceptualising access at the interface of health systems and populations. In: International Journal for Equity in Health 12 (18), https://doi.org / 10.1186 / 1475-9276-12-18 (Zugriff: 06.03.2024).
Page, Julie (2020): Gesundheitliche Ungleichheit. In: Jean-Michel Bonvin et al. (Hg.): Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik. Zürich, https://doi.org / 10.33058 / seismo.30739
Walter, Ulla; Dominik Röding (2022): Zielgruppenspezifische Prävention und Gesundheitsförderung. In: Robin Haring (Hg.): Gesundheitswissenschaften, S. 443 – 444. Springer, https://doi.org / 10.1007 / 978-3-662-65219-0_36.
Weber, Dominik (2020): Chancengleichheit in der Gesundheitsförderung und Prävention in der Schweiz. Begriffsklärungen, theoretische Einführung, Praxisempfehlungen. Grundlagenbericht. Bern: BAG, GFCH, GDK.