Politik

Ein Beitrag von Dr. Yann Bochsler und Prof. Dr. Carlo Knöpfel
Hochschule für Soziale Arbeit, FHNW

Wer in welcher Höhe und zu welchen Bedingungen ein «existenzsicherndes» Einkommen vom Staat erhält, war schon immer eine brisante sozialpolitische Frage – insbesondere in marktwirtschaftlich organisierten Arbeitsgesellschaften. Dieser Beitrag legt die politische Entstehungsgeschichte des sozialen Existenzminimums dar und diskutiert kritisch die wichtigsten politischen Reformen, die zum aktuellen Sozialhilferegime geführt haben.

Existenzsicherung in Arbeitsgesellschaften

Unter dem Begriff Arbeitsgesellschaft wird generell verstanden, dass alle Bürgerinnen und Bürger einer Erwerbsarbeit nachgehen und eigenverantwortlich handeln, also ein Leben ohne sozialstaatliche Unterstützung anstreben. Diese Werte prägen das gesellschaftliche Zusammenleben und die Ausgestaltung sozialstaatlicher Unterstützungsangebote. Es braucht darum gute Gründe, etwa eine kinderreiche Familie, ein zu tiefes Erwerbseinkommen oder eine lange Zeit der Arbeitslosigkeit, um vom Sozialstaat legitimerweise Hilfe zu beanspruchen. Kann dann kein Anrecht auf vorgelagerte Sozialleistungen geltend gemacht werden, garantiert die öffentliche Sozialhilfe das soziale Existenzminimum.

Neben dem betreibungsrechtlichen Existenzminimum und der Anspruchsgrenze für die Ergänzungsleistungen zur AHV / IV ist das soziale Existenzminimum gemäss der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) das wichtigste gesellschaftspolitische Existenzminimum in der Schweiz (SKOS / CSIAS 2016). Es handelt sich um ein historisch gewachsenes System, das zu einer zentralen sozialpolitischen Richtgrösse geworden ist. So orientieren sich etwa auch Sozialdienste von Kirchgemeinden und Stiftungen an den SKOS-Richtlinien, wenn es um die Beurteilung von Einzelanträgen geht, und das Bundesgericht zieht die SKOS-Richtlinien als Referenz heran, um sozialhilferechtliche Auslegungen zu begründen. Nicht zuletzt bemisst das Bundesamt für Statistik die offizielle Armutsgrenze danach.

Das Soziale des Existenzminimums

Ein wichtiger Ausgangspunkt des sozialen Existenzminimums in der Schweiz ist der politische Konsens, dass eine solidarische Unterstützung von armutsbetroffenen Menschen und Haushalten mehr bedeuten muss als ein blosses physisches Überleben. Dieser «soziale» Aspekt kommt in Artikel 12 der Bundesverfassung zum Ausdruck. Das «Recht auf Hilfe in Notlagen» hält fest, dass «(w)er in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, (…) Anspruch (hat) auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind».

Damit erhalten die sozialpolitischen Akteure in den Kantonen den Auftrag, ein «menschenwürdiges Dasein» in der Schweiz zu definieren. Bereits die ersten SKöF-Richtlinien 1963 (damals hiess die SKOS noch Schweizerische Konferenz der öffentlichen Fürsorge) hatten neben der Harmonisierung einer schweizweit sehr uneinheitlichen Sozialhilfepraxis die Förderung der gesellschaftlichen Teilhabe zum Ziel. Das damalige Existenzminimum der Sozialhilfe umfasste einen Unterhaltsbetrag (für eine Einzelperson CHF 180 – 210 pro ­Monat), dessen Berechnung sich an der Lohnhöhe der Ungelernten orientierte. Hinzu kamen Mittel für die Miete und sogenannte «zusätzliche Hilfe» (Sassnick Spohn 2005). Diese zusätzliche Hilfe sollte allfällige Gesundheitskosten und Ausgaben für Bekleidung, Transport, Bildung und Erholung sowie Taschengeld decken. Auch wurde zum ersten Mal eines der wichtigsten Prinzipien der Sozialhilfe festgeschrieben, die Subsidiarität. Das bedeutet, dass alle vorgelagerten Mittel (auch die eigenen) zur Linderung oder Vermeidung einer Notlage aufgebraucht sein müssen, bevor die Sozialhilfebehörden rechtlich zuständig sind und eine materielle Unterstützung angezeigt ist.

Doppelter Auftrag der Sozialhilfe und ­Pauschalisierung des Grundbedarfs für den ­Lebensunterhalt 1998

Der nächste zentrale Entwicklungsschritt der SKOS-Richtlinien und des Systems «soziales Existenzminimum» erfolgte 1998. Hatte sich die Existenzsicherung bisher auf das Bereitstellen minimal notwendiger Mittel beschränkt, wurde die Unterstützung fortan mit dem Ziel der Integration verbunden. Neben der Existenzsicherung strebte die Sozialhilfe nunmehr explizit die Förderung der finanziellen Selbstständigkeit der anspruchsberechtigten Haushalte an. Kantone und Gemeinden fingen an, Integrationsmassnahmen für Sozialhilfebeziehende anzubieten (Bochsler, Koch & Kehrli 2020). Des Weiteren wurde der frühere «Unterhaltsbetrag» mit dem «Grundbedarf für den Lebensunterhalt» ersetzt und als Pauschale festgelegt. Eine Einzelperson hatte fortan CHF 1 010 pro Monat zur Verfügung für die Finanzierung von laufenden Ausgaben für Ernährung, Mobilität, Kleidung oder Kommunikation. Der Grundbedarf orientierte sich an den realen Ausgaben der einkommensschwächsten 20 % der Schweizer Haushalte. Als Referenz diente das Konsumverhalten eines Einpersonenhaushalts. Mithilfe einer von Fachleuten festgelegten Äquivalenzskala werden die Beträge seither für Mehrpersonenhaushalte hochgerechnet. Im Jahr 2003 erfolgte eine Teuerungsanpassung auf CHF 1 130.

Einführung der Aktivierungslogik 2005

Mit einer erneuten Reform der SKOS-Richtlinien im Jahr 2005 wurde die Verknüpfung der beiden Aufträge «Existenzsicherung» und «Integration» weiter verstärkt. Im Sinne des «Aktivierungsprinzips» sollten jene belohnt werden, die sich um eine Reintegration bemühen (Hansen 2019; Kutzner 2009). Dies wegen der Prämisse, dass ein Sozialhilfebezug unweigerlich zu Abhängigkeiten führt. Zu hohe Sozialhilfeleistungen schaden demnach den Unterstützten und sind hinderlich für deren Integration. Entsprechend dieser Logik wurde der Grundbedarf gekürzt, und stattdessen wurden ergänzende Anreizelemente eingeführt: Wer den Regeln und Vorgaben der Sozialhilfe folgte, erhielt fortan Integrationszulagen, und wer arbeitete, durfte einen Teil des Lohnes behalten. Damit wurden «aktive» Sozialhilfebeziehende finanziell besser gestellt im Vergleich zu jenen, die «passiv» blieben. Dadurch wurde der Zugang zu existenzsichernden Leistungen relativiert (Bonvin & Rosenstein 2015). Neu diente das Konsumverhalten der 10 % der einkommensschwächsten Haushalte in der Schweiz als Orientierungsgrösse für die Festlegung des Existenzminimums. Zudem wurde eingeführt, dass die Unterstützung für jene Personen gekürzt werden konnte, die als «unkooperativ» galten, weil sie sich beispielsweise nicht um ihre Integration bemühen oder unpünktlich zu Terminen erscheinen würden.

Weitere Reduktion der Unterstützungsansätze 2015

Die Dekade zwischen 2005 und 2015 war gekennzeichnet von erhöhtem politischem Druck und einer weiteren restriktiven Revision der SKOS-Richtlinien (Keller 2023). Es wurden zunehmend politische Stimmen aus rechtsbürgerlichen Kreisen laut, die generell eine zu grosszügige Handhabung in der Sozialhilfe bemängelten. In verschiedenen Deutschschweizer Kantonen wurden daraufhin parlamentarische Vorstösse eingereicht (AG, BL und BE), die eine weitere Reduktion der Unterstützungsansätze in der Sozialhilfe forderten. Die politischen Bestrebungen konnten sich nicht in allen Kantonen durchsetzen, doch sie prägten die Sozialhilfedebatten in den folgenden Jahren. So begannen immer mehr Kantone, ihre Sozialhilfeleistungen nicht mehr der Teuerung anzupassen, während andere dies nach wie vor taten (SKOS / CSIAS 2018). Dies führte dazu, dass das Existenzminimum von Kanton zu Kanton wieder unterschiedlicher wurde. Zudem kam 2015 eine Vernehmlassung bei Kantonen und Gemeinden zum Schluss, dass sich viele noch stärkere Sanktionsmöglichkeiten wünschten, um zielführender mit «unkooperativen» Sozialhilfebeziehenden umgehen zu können.

Als Reaktion auf diese politischen Forderungen wurden in den SKOS-Richtlinien minimale Integrationszulagen gestrichen, die Unterstützungsleistungen für alleinlebende junge Erwachsene und Grossfamilien reduziert und die Sanktionsmöglichkeiten für «unkooperative» Personen markant verschärft. Neu konnte der Grundbedarf nicht mehr nur um 15 %, sondern zeitlich befristet bis um 30 % gekürzt werden. Zudem sollten Mütter von Kleinkindern wieder rascher in den Arbeitsmarkt einsteigen. Vor 2015 war es üblich, bis zum dritten Lebensjahr des jüngsten Kindes zu warten, bevor Arbeitsintegrationsbemühungen von Müttern eingefordert wurden. Neu war dies bereits nach dem ersten Geburtstag des jüngsten Kindes möglich.

Das aktuelle «Bonus-Malus-System» und laufende Diskussionen zur Höhe der Sozialhilfe

Aktuell empfehlen die SKOS-Richtlinien für eine Einzelperson einen Grundbedarf in der Höhe von CHF 1 031 pro Monat. Der von der Sozialhilfe gewährte Grundbedarf hat sich damit mit Bezug auf den Frankenbetrag wieder dem Niveau aus dem Jahr 1998 angenähert. Der Betrag ist somit wieder vergleichbar mit der Existenzsicherung der Sozialhilfe aus jener Zeit, bevor mit der Begründung von Integration zunehmend Leistungen gekürzt und mit der Möglichkeit zum Verdienen von Integrationszulagen ersetzt wurden. Die vergleichbaren Beträge lassen jedoch ausser Acht, dass gemäss Landesindex seit dem Jahr 1998 eine Teuerung von fast 17 % dazu geführt hat, dass das von der Sozialhilfe gewährte Existenzminimum durchaus gesunken ist. Wobei aber zu berücksichtigen ist, dass die Sozialhilfe ergänzend zum Grundbedarf auch sogenannte «situationsbedingte Leistungen» (SIL) gewährt. Mit diesen können beispielsweise Kosten für die familienergänzende Kinderbetreuung oder Erwerbsunkosten gedeckt werden (SKOS / CSIAS 2023).

Die politischen Debatten zur Höhe der Sozialhilfe laufen weiter. In diversen Kantonen kam es in den vergangenen Jahren zu Diskussionen bis hin zu Volksabstimmungen über die Fragen, welche Rechte und Pflichten die Menschen in der Sozialhilfe haben sollen, wie stark deren Unterstützung von Mitwirkung und Bemühungen bei der beruflichen Integration abhängig gemacht werden soll und nach welcher Methode das Existenzminimum überhaupt zu bemessen ist. Die SKOS verfolgt diese Diskussionen und ist auf Grundlage einer Studie des Büro BASS zum Schluss gekommen, dass die aktuell verwendete Methode zur Bemessung des Existenzminimums gegenüber anderen Ansätzen klare Vorteile aufweist (SKOS / CSIAS 2019; Stutz, Stettler & Dubach 2018). Eine im Auftrag der Christoph Merian Stiftung durchgeführte Studie hat die methodischen Möglichkeiten weiter vertieft und bestätigt diese Erkenntnis (vgl. Beitrag «Sozialforschung»). Das Berechnungsmodell ist replizierbar, robust und kann einfach aktualisiert werden. Einerseits kann diese Positionierung der SKOS als positive Neuigkeit für die Bestimmung des sozialen Existenzminimums in der Schweiz gewertet werden. Die involvierten Akteure zeigen damit, dass sie auf ein transparentes, fachlich und wissenschaftlich abgestütztes Berechnungsverfahren setzen möchten. Andererseits muss man kritisch festhalten, dass wissenschaftliche Analysen der SKOS zum sozialen Existenzminimum in der jüngeren Vergangenheit eher unbeachtet blieben, wie die Reduktion der Unterstützungsansätze 2015 gezeigt hat. Noch relevanter für die konkrete Festlegung der gewährten Beträge ist der interne politische Druck, denen die Kantone als einflussreichste Mitglieder der SKOS ausgesetzt sind.

Literaturhinweise

Bochsler, Yann; Martina Koch; Christin Kehrli (2020): Integration (soziale und berufliche ­Integration). In: Wörterbuch der Schweizer ­Sozialpolitik. Zürich, Genf: Seismo, S. 248 – 250.

Bonvin, Jean-Michel; Emilie Rosenstein (2015): Contractualising Social Policies. A Way Towards More Active Social Citizenship and Enhnaced Capabilities? In: New Contractualism in European Welfare State Policies. Hg. R. Ervik et al. Aldershot: Ashgate Publishing.

Hansen, Magnus (2019): The Moral Economy of Activation. Ideas, Politics and Policies. Bristol: Policy Press.

Keller, Véréna (2023): Sozialhilfe Schweiz 2000 – 2022, Chronologie eines Umbaus. Vorstösse und Entscheide auf Bundes-, Kantons- und ­Gemeindeebene. Bern: Avenir Social.

Kutzner, Stefan (2009): Die Hilfe der Sozialhilfe: integrierend oder exkludierend? Menschenwürde und Autonomie im Sozialhilfewesen, S. 25 – 61.

In: Sozialhilfe in der Schweiz. Klassifikation, Integration und Ausschluss von Klienten. Hg. Stefan Kutzner et al. Zürich: Rüegger.

Sassnick Spohn, Frauke et al. (2005): Von der ­Armenpflege zur Sozialhilfe. Ein Jahrhundert SKOS & ZeSo. Ein Lesebuch. Bern: Schweizerische Konferenz for Sozialhilfe.

SKOS / CSIAS (2016): Das Soziale Existenzminimum der Sozialhilfe. Grundlagenpapier der SKOS. Bern: Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS.

SKOS / CSIAS (2018): Monitoring Sozialhilfe 2018. Monitoring. Bern: Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS.

SKOS / CSIAS (2019): Kommentar zum Bericht: Büro BASS Die Berechnung des Grundbedarfs. Bern: Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS.

SKOS / CSIAS (2023): Richtlinien für die Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe. Bern: Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS.

Stutz, Heidi; Peter Stettler; Philipp Dubach (2018): Berechnung und Beurteilung des Grundbedarfs in den SKOS-Richtlinien. Bern: Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien BASS.