Recht
Im Zentrum der Sozialstaatsidee steht ein menschenwürdiges Leben für alle: Niemand soll hungern, sozial ausgeschlossen und stigmatisiert werden, alle sollen die Möglichkeit zu persönlichen Beziehungen und zu einer angemessenen Teilhabe am Sozialleben haben. Dazu sind die Lebensverhältnisse in der Schweiz zu berücksichtigen. Diese Grundsätze werden im Landesrecht konkretisiert – in Bundes- und Kantonsverfassungen, Gesetzen und Verordnungen. Aber auch in der Rechtsprechung der Gerichte, welche die teilweise sehr allgemeinen Rechtsnormen auslegen und auf konkrete Fragestellungen anwenden. Daraus lassen sich auch zahlreiche Garantien ableiten, die ein soziales Existenzminimum umschreiben.
Menschenwürde als allgemeine Grundlage der Existenzsicherung
Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind. Dieses in Art. 12 der Bundesverfassung garantierte Recht auf Hilfe in Notlagen umfasst gemäss Praxis und Rechtsprechung nur die notwendigsten Positionen an Nahrung, Kleidung, Obdach und medizinischer Grundversorgung. Insofern wird gerade nicht ein soziales Existenzminimum garantiert, zu welchem auch die soziale Teilhabe gehört. Dies erstaunt insbesondere deshalb, weil in dem Grundrecht explizit auf ein menschenwürdiges Dasein hingewiesen wird.
Die allgemeine Garantie der Menschenwürde (Art. 7 der Bundesverfassung) ist die zentrale Referenz für das soziale Existenzminimum und spielt für ein modernes Verständnis von Armut eine wichtige Rolle (z. B. im Sinne von Armut als Mangel an Verwirklichungschancen). Die Achtung und der Schutz der Menschenwürde ist nicht zuletzt auch insofern von grundlegender Bedeutung, als die Sozialhilfe immer noch stigmatisierende Wirkung hat (Diskriminierungsproblematik) und Sozialhilfebeziehende eine vulnerable Minderheit darstellen, die einem besonderen Risiko für Grund- und Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt ist. Gleichzeitig ist die Garantie der Menschenwürde zu abstrakt und vage, als dass die konkrete Definition eines sozialen Existenzminimums aus ihr heraus definiert werden könnte.
«Aus verschiedenen verfassungsrechtlichen Garantien (insbesondere dem Schutz der Menschenwürde, dem Diskriminierungsverbot und der persönlichen Freiheit) erschliesst sich, dass existenzsichernde Leistungen (…) nicht bloss das nackte Überleben, sondern darüber hinaus eine minimale Teilhabe am gesellschaftlichen und sozialen Leben ermöglichen sollen.»
Pascal Coullery, 2019
Einzelne Grundrechte als inhaltliche Richtschnur der Existenzsicherung
Eine konkret bezifferbare Mindesthöhe für eine soziale Existenzsicherung lässt sich auch aus den weiteren Grundrechten der Verfassung nicht ableiten. Die in der Verfassung garantierten Freiheitsrechte – wie etwa der Schutz der persönlichen Lebensgestaltung (Art. 10 Abs. 2 BV) oder der Privatsphäre (Art. 13 BV) – sowie die Garantien politischer Teilhaberechte bilden eine Richtschnur zur Bestimmung dessen, was zum sozialen Existenzminimum gehören muss.
Wenn ein soziales Existenzminimum fehlt, laufen diese Garantien ins Leere. Wer kein Geld hat, kann beispielsweise kaum am öffentlichen Leben teilnehmen (Kommunikationsgrundrechte, politische Grundrechte), sich über die Medien informieren (Informationsfreiheit) oder eine Familie gründen (Recht auf Ehe und Familie). Auch eine Teilhabe am sozialen Leben (Art. 10 Abs. 2 BV) oder der Beitritt zu Vereinen (Art. 23 Abs. 1 BV) sind ohne ausreichend finanzielle Mittel kaum möglich. Zu einer soziokulturellen Existenz gehören unbestritten auch eine angemessene Unterkunft. Fehlt eine solche, kann ein Schutz der Privatsphäre (Art. 13 Abs. 1 BV) wie auch der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) kaum ausgelebt werden. Weitere Beispiele sind ausreichend Mittel für die Finanzierung eines notwendigen Umzugs, damit die Niederlassungsfreiheit gelebt werden kann. Bei der Rechtsanwendung kommt auch dem wirksamen Einbezug der betroffenen Person über die Verfahrensgrundrechte (Art. 29 f. BV) wesentliche Bedeutung zu (Verfahrensgerechtigkeit, Zugang zum Recht für Arme).
Eine wichtige Rolle spielt hierbei der Gedanke der Chancengleichheit (Art. 2 Abs. 3 BV). Jedem und jeder soll die angemessene Gelegenheit von Selbstbestimmung (privater Freiheit) und gesellschaftlich-politischer Teilhabe (politische Freiheit respektive Mitwirkungsmöglichkeiten) eröffnet werden. Zudem sind auch Sozialleistungen rechtsgleich zu gewähren und zu bemessen (Art. 8 Abs. 1 BV), wobei Differenzierungen durchaus zulässig und allenfalls nötig sind, um unterschiedlichen Bedürfnissen angemessen Rechnung tragen zu können.
Das Diskriminierungsverbot (Art. 8 Abs. 2 BV) enthält mit dem Verbot sozialer Ausgrenzung ebenfalls einen wichtigen Referenzrahmen. Niemand darf aufgrund seiner sozialen Stellung herabgesetzt und stigmatisiert werden. Bedarf (z. B. für Kleidung, Unterkunft, soziale Teilhabe) und das Sozialsystem sollen so ausgestaltet sein, dass im Verhältnis zur übrigen Bevölkerung keine soziale Ausgrenzung erfolgt. Der unterstützten Person muss es möglich sein, in der Umgebung von Nicht-Hilfeempfängern ähnlich wie diese zu leben. Das gilt erst recht für Kinder und Jugendliche, deren in der Kinderrechtskonvention (KRK) garantierten Rechte schon deshalb ein wichtiges Thema sind, weil rund ein Drittel aller Sozialhilfebeziehenden jünger als 18 Jahre ist: Kinder und Jugendliche müssen spezifisch gefördert werden (z. B. Förderung der sozialen Integration) und stehen unter besonderem Schutz (Art. 11 BV, KRK).
Sozialziele als zusätzliche Vorgaben für die Existenzsicherung
Neben den einzelnen Grundrechten bieten noch weiterreichende, wenn auch – nach gegenwärtiger Praxis – rechtlich nicht direkt einklagbare Bestimmungen in internationalen und europäischen Rechtstexten zusätzliche Vorgaben für die Existenzsicherung. Dazu gehören soziale Menschenrechte wie bspw. das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Und in der Bundesverfassung selbst sind Sozialziele festgehalten (Art. 41 BV), die weithin der Förderung und Sicherstellung der rechtlichen Freiheit dienen. Bund und Kantone müssen sich im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für die Verwirklichung der Sozialziele einsetzen, etwa in den Bereichen Gesundheit, Familie, Wohnen, Bildung und Arbeit. Im Unterschied zu Art. 12 BV und anderen Grundrechten sind die formulierten Sozialziele zwar nicht direkt einklagbar. Sie sind aber bspw. bei der rechtlichen Regelung der Existenzsicherung zu berücksichtigen.
Konkrete Auswirkungen von Grundrechten auf die Existenzsicherung
Die aufgeführten Grundrechte der Bundesverfassung lassen sich nach aktueller Rechtspraxis nur in sehr eingeschränktem Rahmen vorbringen, um ein soziales Existenzminimum nötigenfalls auch gerichtlich einzufordern. Die Verfassung sieht jedoch vor, dass diese Garantien in der ganzen Staats- und Rechtsordnung verwirklicht werden sollen (Art. 35 BV). Zudem fliesst aus dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit auch ein sogenanntes Untermassverbot, wonach der Staat nicht unverhältnismässig wenig Schutz gewähren darf. Die Grundrechte prägen daher Regelwerke wie jene der Ergänzungsleistungen für AHV / IV oder der Sozialhilfe, welche dann sehr wohl konkret einforderbare Ansprüche beinhalten.
Grundrechte haben damit insgesamt eine grosse Bedeutung als leistungsrechtliche Anknüpfungspunkte. Dies gilt auch für die Anwendung von sozialrechtlichen Normen in konkreten Einzelfällen, bspw. bei der Interpretation von allgemein formulierten Bestimmungen, welche den rechtsanwendenden Organen einen Ermessensspielraum belassen. Das soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Grundrechte weder in der Sozialpolitik noch in der Sozialhilfepraxis den Stellenwert haben, den sie rechtlich verdienen. Insbesondere auch das Bundesgericht ist gefordert, seine weitgehend zurückhaltende Rechtsprechung zu überdenken und den Grundrechten in der Sozialhilfe verstärkt Nachachtung zu verschaffen.
Soziale Existenzsicherung im Kanton Basel-Stadt
Der Kanton Basel-Stadt ist ein sozialer Rechtsstaat (§ 1 Kantonsverfassung Basel-Stadt (KV BS)), welcher die Grundrechte gemäss Bundesverfassung auch für das kantonale Recht als massgebend erklärt. Namentlich werden die Würde des Menschen, der Schutz vor Diskriminierung, das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht von Kindern und Jugendlichen auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung, der Schutz des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und der Kommunikation, das Recht auf Ehe und Familie, die Informations- und Meinungsfreiheit, das Recht auf Hilfe in Notlagen genannt. Ebenfalls ausdrücklich wird gewährleistet, dass die Verfahrensgarantien eingehalten werden.
Das wichtigste Mittel zur sozialen Existenzsicherung, die Sozialhilfe, wird im Sozialhilfegesetz des Kantons Basel-Stadt (SHG BS) geregelt. In § 2 SHG BS wird festgehalten, dass die Sozialhilfe die Aufgabe habe, bedürftige und von Bedürftigkeit bedrohte Personen zu beraten und ihre materielle Sicherheit zu gewährleisten sowie die Selbstständigkeit zu erhalten und zu fördern. Als bedürftig gilt nach § 3 SHG BS, wer ausserstande ist, die Mittel für den Lebensbedarf für sich und die mit ihm zusammenwohnenden Personen, für die er oder sie unterhaltspflichtig ist, hinreichend oder rechtzeitig zu beschaffen. In § 7 Abs. 1 SHG BS wird ausdrücklich verankert, dass die wirtschaftliche Hilfe sich auf die Sicherung des sozialen Existenzminimums erstrecke. Das Mass der wirtschaftlichen Hilfe – und damit implizit das soziale Existenzminimum – orientiere sich an den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS-RL). Die SKOS-RL halten ausdrücklich fest, dass die materielle Grundsicherung eine bescheidene und menschenwürdige Lebensführung mit sozialer Teilhabe (soziales Existenzminimum) ermögliche (SKOS-RL C.1) und den Grundbedarf (GBL), die anrechenbaren Wohnkosten, die medizinische Grundversorgung, grundversorgende situationsbedingte Leistungen (SIL), fördernde SIL, Integrationszulagen (IZU) und Einkommensfreibeträge (EFB) enthalte. Was dies in Basel-Stadt konkret bedeutet, lässt sich den Unterstützungsrichtlinien des zuständigen Departements sowie dem Handbuch der Sozialhilfe entnehmen. Demnach will auch der Kanton Basel-Stadt ausdrücklich das soziale Existenzminimum sichern. Zur Geltendmachung braucht es ein Gesuch an die Sozialhilfe Basel-Stadt.
Literaturhinweise
Unterstützungsrichtlinien des Departements für Wirtschaft, Soziales und Umwelt des Kantons Basel-Stadt, 2024, sowie Handbuch Sozialhilfe (www.sozialhilfe.bs.ch).
Belser, Eva Maria; Thea Bächler (2020): Das Grundrecht auf Sozialhilfe. Von der Notwendigkeit, ein ungeschriebenes Grundrecht anzuerkennen, das über das Recht auf Hilfe in Notlagen hinausgeht. In: ZBl 9.
Coullery, Pascal (2019): Der Verfassungsanspruch auf existenzsichernde Leistungen. In: Jusletter, 25. März.
Wizent, Guido (2023): Sozialhilferecht, 2. Aufl., Zürich, St. Gallen: Dike.