Sozialforschung

Ein Beitrag von Dr. Dominic Höglinger und Jürg Guggisberg
Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien BASS

Was braucht es, um an einem bestimmten Ort die als notwendig erachteten Güter und Dienstleistungen beziehen zu können, um so einen mini­malen Lebensstandard zu erreichen? Dies ist die zentrale Frage, welche sich bei der Bemessung des Existenzminimums stellt. Ausgehend vom sozialen Existenzminimum der Sozialhilfe der Schweiz führt der Beitrag exemplarisch aus, wie bestehende Ansätze diese Frage im Rahmen eines systematischen, methodisch begründeten und empirisch fundierten Verfahrens zu beantworten suchen, und zeigt bestehende Herausforderungen und mögliche Weiterentwicklungen auf.

Die Bemessung des Existenzminimums in der Sozialhilfe

Das soziale Existenzminimum der Sozialhilfe gemäss den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) ist unbestritten das wichtigste Existenzminimum in der Schweiz. Dies liegt einerseits an der essenziellen Rolle der Sozialhilfe als «letztem Netz» im System der sozialen Sicherheit. Und zum anderen daran, dass das Existenzminimum der Sozialhilfe und deren Grundbedarf für den Lebensunterhalt als verbindliche Richtgrössen in der allgemeinen Sozialpolitik der Schweiz fungieren.

Während bei den Ausgaben für Wohnen, Gesundheit und individuell gewährte situationsbedingte Leistungen die tatsächlich anfallenden Kosten – innerhalb festgelegter Grenzen und nach definierten Vorgaben – übernommen werden, wird der Grundbedarf für den Lebensunterhalt (GBL) seit den 1990er-Jahren als monatliche Pauschale ausbezahlt. Aktuell (Stand 1.1.2024) beträgt diese für einen Einpersonenhaushalt CHF 1 031. Nachfolgend wird erläutert, wie dieser Betrag bemessen wird. Im zweiten Teil des Beitrags wird darauf eingegangen, welche Aspekte bei der Bemessung des Grundbedarfs aus wissenschaftlicher Sicht problematisch sind.

Grundlage für die Bemessung der Höhe des Grundbedarfs bildet das Konsumverhalten von Schweizer Haushalten mit niedrigem Einkommen. Dazu werden die durchschnittlichen Konsumausgaben der einkommensschwächsten 10 % der Einpersonenhaushalte gemäss Haushaltsbudgeterhebung (HABE) des Bundesamts für Statistik (BFS) herangezogen. Es wird detailliert erhoben, für welche Güter und Dienstleistungen diese Haushalte wie viel ausgeben. Aus der Summe der Ausgaben für diesen Warenkorb bestimmt sich der Grundbedarf. Diese Methode, bei welcher das Existenzminimum ausgehend vom mittels repräsentativer Befragung erhobenen realen Konsum- und Ausgabeverhalten der Bevölkerung bestimmt wird, nennt sich «umfrage-basiertes Referenzbudget».

Der entsprechende für einen Einpersonenhaushalt ermittelte Grundbedarf wird für weitere Haushaltsgrössen mittels einer von der SKOS entwickelten Äquivalenzskala hochgerechnet, wobei die Gewichte für weitere Haushaltsmitglieder zunehmend tiefer ausfallen. Dahinter steckt die Überlegung, dass Mehrpersonenhaushalte durch gemeinsames Wirtschaften mit weniger Einkommen pro Kopf einen vergleichbaren Lebensstandard wie Alleinlebende erreichen.

Weitere Ansätze der Existenzsicherung in der Schweiz

Die Bemessung des Existenzminimums in der Sozialhilfe resp. das entsprechende empirisch-statistische Verfahren dienen als Referenz für die Bemessung weiterer Existenzminima. Konkret gilt dies für das betreibungsrechtliche Existenzminimum, für die statistische Ermittlung der Armutsquote des Bundesamts für Statistik sowie teilweise auch für die Festlegung der Ansätze der Asylfürsorge. Die Ergänzungsleistungen (EL) von AHV und IV haben sich zwar anfänglich an den Ansätzen der damaligen Sozialhilfe orientiert, sie sind über die nachfolgenden Jahrzehnte jedoch in Relation zu den Renten nach politischen Festlegungen gewachsen. Über den jeweils mehr oder weniger engen Bezug auf das Existenzminimum der Sozialhilfe hinaus basieren diese weiteren Ansätze in der Schweiz letztlich primär auf politischen und historisch gewachsenen Festlegungen. Anders als beim Grundbedarf der Sozialhilfe fehlt eine systematische Herleitung ausgehend vom notwendigen Bedarf respektive dem sozialen Existenzminimum. Bei den beträchtlichen Unterschieden bezüglich der Höhe der jeweiligen Ansätze spielen vielmehr unterschiedliche Wahrnehmungen der «Wohlfahrtswürdigkeit» bestimmter Gruppen eine wesentliche Rolle.

Exkurs: Existenzsicherung losgelöst vom Bedarf in der Asylfürsorge

Eine sorgfältige und wissenschaftlich fundierte Abstützung des zur Anwendung kommenden Existenzminimums wäre vorrangig bei der Asylfürsorge erstrebenswert, da es sich – abgesehen von der Nothilfe – um die soziale Mindestsicherungsleistung mit den tiefsten Ansätzen handelt. Das Asylgesetz gibt vor, dass die Ansätze der Asylfürsorge unter jenen der regulären Sozialhilfe anzusetzen sind, wobei das genaue Ausmass offenbleibt. Dass dieser Abstand teilweise so gross ist, dass die Unterstützung weniger als die Hälfte des Grundbedarfs der regulären Sozialhilfe beträgt und dass zudem die Ansätze zwischen den Kantonen (in einigen Kantonen sogar von Gemeinde zu Gemeinde) stark variieren – dies ist sachlich nicht zu begründen und verstärkt den Eindruck einer weitgehend arbiträren Setzung dieser Ansätze, losgelöst von Überlegungen bezüglich des tatsächlichen Lebensbedarfs der Betroffenen. Übersehen wird zudem oft, dass mit der Asylfürsorge nicht nur Asylsuchende kurzfristig unterstützt werden, sondern auch vorläufig aufgenommene Personen, bei denen es sich mehrheitlich um Gewalt- und Kriegsvertriebene handelt, die faktisch meist längerfristig in der Schweiz verbleiben und sich somit trotz rechtlich unterschiedlichem ­Status in einer vergleichbaren Situation befinden wie anerkannte Flüchtlinge. Letztere haben bei Bedarf Anspruch auf reguläre Sozialhilfe wie die restliche Bevölkerung.

Gibt es bessere Methoden zur Bemessung des ­Existenzminimums?

Mit der Herausforderung, das Existenzminimum zu bestimmen, steht die Schweiz nicht allein da. Während man sich bei der Sozialhilfe in der Schweiz sowie auch bei der Grundsicherung in Deutschland primär an sog. «umfrage-basierten Referenzbudgets» orientiert, existieren in anderen Ländern und in der Fachwelt alternative Bemessungsverfahren, wobei oftmals verschiedene Ansätze kombiniert werden.

International weiterhin stark verbreitet ist die traditionelle Herangehensweise des «experten-basierten Referenzbudgets». Expertinnen und Experten bestimmen dabei auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse, praxisbezogenen Wissens und der Erfahrung von Fachleuten das soziale Existenzminimum. Es ist umstritten, inwiefern Expertenurteile angesichts der unweigerlich grossen Ermessensspielräume verlässliche Ergebnisse liefern können. Dies insbesondere auch wegen sehr offener Grundbedürfnisse wie beispielsweise einer angemessenen sozialen Teilhabe. Die Bemessung des Grundbedarfs in der Sozialhilfe in der Schweiz erfolgte vor dem Wechsel auf das aktuelle Verfahren in den 1990er-Jahren ebenfalls auf diese Weise.

«Partizipatorisch-deliberative Referenzbudgets» werden im Rahmen von Fokusgruppengesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern ausgearbeitet, diskutiert und validiert, teilweise unter Einbezug von Armutsbetroffenen. Ihr partizipatorischer Ansatz kann die Legitimität der Ergebnisse erhöhen. Allerdings eignen sie sich aufgrund der unzureichenden Reliabilität der Ergebnisse aus den konsensualen Fokusgruppen kaum für folgenschwere Anwendungen wie die Bemessung der Ansätze der Mindestsicherung. Erschwerend kommt der ausserordentlich hohe Aufwand dieser Verfahren hinzu.

Das in der Schweiz bei der Bemessung des Grundbedarfs in der Sozialhilfe verwendete Verfahren des «umfrage-basierten Referenzbudgets» hat hingegen eine Reihe von gewichtigen Vorteilen gegenüber den beiden erwähnten alternativen Verfahren. Diese Vorteile liegen in der hohen Zuverlässigkeit und Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse sowie in den vergleichsweise wenigen zu treffenden normativen Entscheidungen, die zudem transparent offengelegt und diskutiert werden können (u. a. die Frage, an welchem Einkommensbereich man sich orientiert, aktuell sind es die einkommensschwächsten 10 % der Einpersonenhaushalte). Ein weiterer Vorteil ist die automatische und zeitnahe Berücksichtigung von sich wandelnden Konsummustern als Folge gesellschaftlicher und technologischer Entwicklungen, wie etwa der inzwischen zentrale Stellenwert von Mobiltelefon und Internet in allen Lebensbereichen.

Insgesamt bestehen keine überzeugenden Gründe, vom aktuell bei der Bemessung des Grundbedarfs in der Sozialhilfe verwendeten Verfahren des «umfrage-basierten Referenzbudgets» grundsätzlich abzurücken. Zugleich sind die Kritikpunkte sowohl an diesem Verfahren als auch an dessen Umsetzung bei der Bemessung des Grundbedarfs ernst zu nehmen und es gilt, mögliche Weiterentwicklungen zu prüfen. Darauf wird im Folgenden eingegangen.

Heikler Schluss vom Konsum der untersten Einkommensschichten auf das Existenzminimum

Bei der Bemessung eines sozialen Existenzminimums muss sorgfältig abgewogen werden, am Ausgabeverhalten welcher Einkommensschicht sich dieses orientieren soll. Je tiefer die gewählte Referenzeinkommensgruppe, desto höher ist das Risiko, fälschlicherweise von einem Mangel auf den Bedarf zu schliessen. Die Annahme muss vertretbar und plausibel sein, dass für diese Gruppe das soziale Existenzminimum gewährleistet ist und sich diese Haushalte überwiegend nicht in einer Mangellage befinden. Für Haushalte, die sich bezüglich ihrer Ausgaben auf dem Durchschnittswert der einkommensärmsten 10 % befinden – so die aktuelle Referenzgrösse des Grundbedarfs in der Sozialhilfe –, dürfte dies zumindest fraglich sein.

Problematische Anpassungen des methodisch ermittelten Existenzminimums

Der in den SKOS-Richtlinien empfohlene Grundbedarf deckt sich nicht völlig mit dem statistisch berechneten Richtwert. In den 2010er-Jahren durchgeführte Berechnungen haben aufgezeigt, dass der Grundbedarf rund 10 % unter diesem Richtwert lag, der auf den jeweils aktuellsten Daten basierte (BFS 2014; Stutz et al. 2018). Auch wurden im Rahmen der Richtlinienrevision von 2015 substanzielle Kürzungen des Grundbedarfs für bestimmte Personengruppen vorgenommen, namentlich bei jungen Erwachsenen bis 25 Jahre mit eigenem Haushalt sowie bei Grossfamilien ab sechs Personen (vgl. Beitrag «Politik»). Schliesslich erfolgt auch die Umsetzung der SKOS-Richtlinien nicht schweizweit einheitlich, da diese lediglich empfehlenden Charakter haben und erst durch kantonale Gesetze rechtlich bindend werden. So kommt es teilweise zu weiteren Anpassungen respektive Kürzungen.

Aus methodischer Sicht problematisch ist, dass der SKOS-Warenkorb nur eine eingeschränkte Auswahl an Ausgaben berücksichtigt. Aufgrund politischer Überlegungen wurden bspw. Ausgaben für auswärts eingenommene alkoholische Getränke oder für die Benützung eines Autos ausgeklammert. Die ermittelten durchschnittlichen Ausgaben für einzelne Positionen des Warenkorbs entsprechen jedoch nicht dem Budget eines realen Haushalts, sondern sind das Ergebnis einer statistischen Aggregation. Durch die Streichung einzelner Positionen wird dieses statistische Gesamtbild empfindlich gestört. Insbesondere verhindern Substitutionsbeziehungen zwischen einzelnen Gütern und Dienstleistungen so die korrekte Bemessung des Lebensbedarfs. Werden bspw. die Auslagen für die Benützung eines Autos aus dem SKOS-Warenkorb gestrichen, führt dies zu einer Unterschätzung der Ausgaben für andere Verkehrsmittel. Dies deshalb, weil der Verzicht auf ein Auto bedeutet, dass Ausgaben für andere Verkehrsmittel steigen, bspw. durch Billette für den öffentlichen Verkehr. Streichungen einzelner Ausgabenpositionen aus dem Warenkorb sind aus methodischer Sicht daher möglichst zu vermeiden.

Umrechnung des Existenzminimums auf ­Mehrpersonenhaushalte

Die Angemessenheit der verwendeten Äquivalenzskala für die Umrechnung des Grundbedarfs in der Sozialhilfe von einem Einzelpersonenhaushalt auf Mehrpersonenhaushalte wurde letztmals vor rund 20 Jahren genauer untersucht. Eine neue, vertiefte Prüfung wäre angebracht, etwa auch hinsichtlich der Frage, ob es tatsächlich realistisch ist, dass gemeinsames Haushalten derart starke Einsparungen ermöglicht, wie sie die verwendete Skala voraussetzt. So erhalten insbesondere Haushalte mit Kindern deutlich tiefere Pro-Kopf-Beträge. Beträgt der Grundbedarf für den Lebensunterhalt für eine Einzelperson aktuell CHF 1 031, so erhält bspw. ein Paar mit drei Kindern insgesamt CHF 2 495, wobei für das dritte Kind nur noch CHF 289 zusätzlich anfallen. Auch wird – anders als etwa bei den Ergänzungsleistungen – bei Minderjährigen nicht nach Alter differenziert, obwohl der Bedarf von Kindern und Jugendlichen mit zunehmendem Alter ansteigt.

Aktualisierung des Existenzminimums über die Zeit

Um die Höhe des Existenzminimums aktuell zu halten, kommen beim umfrage-basierten Referenzbudget zwei unterschiedliche Mechanismen zur Anwendung: Beim «Rebasing» wird das Existenzminimum nach grösseren Zeiträumen jeweils von Grund auf empirisch neu ermittelt – in der Regel dann, wenn neue Befragungsdaten zur Verfügung stehen. Im Zeitraum dazwischen kommt das «Updating» zum Zuge. Beim Grundbedarf in der Sozialhilfe erfolgt dieses Updating seit 2009 nach derselben Methode wie die Anpassung von Renten und Ergänzungsleistungen im Bereich AHV / IV. Sie wird damit alle zwei Jahre an die Preis- und Lohnentwicklung angepasst.

Analog wie in Deutschland wäre prinzipiell ein komplexeres Updating-Verfahren möglich, das sich nicht an der allgemeinen Preis- und Lohnentwicklung orientiert, sondern eingeschränkt nur die Teuerung von Gütern aus dem Grundbedarf berücksichtigt. Zudem könnten mittels einer «ergänzenden Fortschreibung» erwartete zukünftige Teuerungsschübe antizipiert werden. Aus einer längerfristigen Perspektive ist jedoch fraglich, ob die Einführung so komplexer Methoden zur zeitlichen Fortschreibung verhältnismässig wäre. Dies insbesondere, wenn davon ausgegangen wird, dass es nicht dauerhaft zu markanten Preissteigerungen kommt wie in der jüngsten Zeit. Sinnvoller wäre vor diesem Hintergrund vielmehr ein regelmässiges Rebasing, von dem in der Schweiz im Moment abgesehen wird. Aktuell würde sich ein Rebasing alle drei, sechs oder neun Jahre anbieten, entsprechend dem vorgegebenen Rhythmus der durch das Bundesamt für Statistik jeweils neu erhobenen statistischen Grundlagen.

Der Beitrag basiert auf der Studie
«Die Bestimmung des sozialen Existenzminimums» (2023).
Dort finden sich auch weiterführende Literaturhinweise.

Die Studie wurde im Auftrag der Christoph ­Merian Stiftung erstellt und ist publiziert auf der Webseite des Büro BASS: www.buerobass.ch / kernbereiche / projekte / grundlagenstudie-existenzminimum