Digitalisierung
Dank der Digitalisierung können Daten aus vorhandenen Registern der Verwaltung zunehmend auf fruchtbare Weise für die Beobachtung sozialer Themen wie Armut oder Schulden genutzt werden. Auch das Potenzial der Algorithmenbasierten Mustererkennung rückt vermehrt in den Fokus angewandter Forschung. Damit können Prognosen zur Früherkennung von kritischen Lebenslagen erstellt werden. Vor diesem Hintergrund legt die Berner Fachhochschule im strategischen Themenfeld «Humane digitale Transformation» den Fokus auf einen digitalen Wandel, der den Menschen ins Zentrum stellt. Ausgehend davon entwickeln wir im vorliegenden Beitrag für den Kanton Basel-Stadt Grundlagen für ein datengestütztes Beobachtungssystem in der Schuldenthematik. Dieses System hat zum Ziel, Menschen in prekären Lebenslagen proaktiv zu beraten und Überschuldungssituationen präventiv zu verhindern.
Verknüpfung der Steuerdaten zur Schuldenbeobachtung
Die Daten der Steuerverwaltung bilden einen interessanten Ausgangspunkt, weil sie die finanzielle Situation der gesamten Bevölkerung abbilden und umfassend Aufschluss über Einkommen und Vermögen geben. Weil Schulden bei der Steuererklärung als Abzüge geltend gemacht werden können, ist davon auszugehen, dass Steuerdaten auch weitgehend Einblick geben in die Verschuldungssituation der einzelnen Haushalte und der Bevölkerung insgesamt. So enthalten die Steuerdeklarationen ein Schuldenverzeichnis mit Schuldensumme, Zinsen und Gläubigerinnen und Gläubigern. Gut erfasst sind Hypothekarschulden, Privatdarlehen und Kleinkredite. Zudem werden Privat- und Geschäftsschulden (inkl. den damit verbundenen Zinsen) unterschieden. Allerdings ist ebenso bekannt, dass viele Armutsbetroffene mit hohen Schulden diese gegenüber den Steuerbehörden nicht abschliessend deklarieren. Dies setzt einem steuerdatenbasierten Schuldenbeobachtungssystem erste Grenzen. Dennoch denken wir, dass es bereits mit Hilfe von Steuerdaten möglich ist, riskante Formen der Verschuldung zu erkennen, die im Sinne eines Frühwarnsystems genutzt werden können. Der vorliegende Beitrag prüft erste Schritte eines solchen Ansatzes.
Zur Entwicklung eines datengestützten Beobachtungssystems für Schulden stützen wir uns vorliegend auf Steuerdaten der Jahre 2016–2019. Diese Daten sind mit dem Einwohner- und Bevölkerungsregister und den Sozialleistungsdaten des Kantons verknüpft (Prämienverbilligungen, Sozialhilfe, Familienzulagen). Damit lässt sich die Haushaltszusammensetzung bestimmen sowie die Anbindung an das Sozialleistungssystem. Für die nachfolgenden Auswertungen sind die Daten auf die Bevölkerung im Erwerbsalter (inkl. Kinder) eingegrenzt. Sie umfassen Angaben für 117’658 Personen.
Privatschulden und verschiedene Formen riskanter Verschuldung, 2019
Indikatoren zur Früherkennung von Überschuldung
Wann wird eine Schuld problematisch? Das ist die zentrale Frage. Schulden sind nicht an sich problematisch, werden aber dann zu einer Bürde, wenn sie nicht beglichen werden können und es zu einer Überschuldung kommt. Aus einer Logik der Früherkennung wäre es wichtig, kritische Formen der Verschuldung zu erkennen, die auf Fälle verweisen, aus welchen möglicherweise Überschuldungen resultieren. Können wir risikohafte Formen der Verschuldung messen? Die vorangehende Tabelle zeigt eine Reihe von Auswertungen der vorhandenen Steuerdaten zur Verschuldungssituation von Haushalten in Basel-Stadt. Nachfolgend wird erläutert, ob und inwiefern sich die genannten Auswertungen als Frühindikatoren einer möglichen Überschuldung eignen.
Privatschulden
Die ersten beiden Indikatoren bilden ab, wie viele Personen Privatschulden in der Steuererklärung deklarieren (Indikator 1) und wie viele davon ohne Liegenschaftseigentum sind (Indikator 2). Mit Letzterem kann ausgeschlossen werden, dass es sich bei den Privatschulden um Hypothekarschulden handelt. Insgesamt leben 37% der Personen im Erwerbsalter in Haushalten mit Privatschulden. Diese bestehen aber zu grossen Teilen aus Hypothekarschulden. Indikator 1 eignet sich entsprechend nicht als Risikoindikator. Deutlich weniger Personen haben Privatschulden ohne Hypotheken – nämlich 7,2%. Um triviale Schulden auszuschliessen, setzen wir zusätzlich eine Grenze für eine relevante Schuldenhöhe bei CHF 10’000. Auch dieser Indikator scheint uns jedoch wenig aussagekräftig, weil die Einkommenssituation und damit die Möglichkeit, Schulden zu begleichen, ausser Acht gelassen wird.
Riskante Verschuldung
Interessanter scheinen uns die Indikatoren im Themenbereich Riskante Verschuldung. Hier wird die Einkommenssituation differenziert miteinbezogen, indem das verfügbare Einkommen einmal mit der gesamten Schuldsumme (Indikator 3) und einmal mit den Schuldzinsen (Indikator 4) verglichen wird. Das verfügbare Einkommen bezieht sich auf die Einnahmen, die einem Haushalt nach Abzug von Fixkosten (insb. Miete, Krankenkassenprämie) für ein Existenzminimum gemäss Sozialhilfe bleiben. 4,2% der Personen in Basel-Stadt haben demnach Schulden, die höher sind als das verfügbare Jahreseinkommen, und bei 1,6% der Personen sind gar die Schuldzinsen höher als das verfügbare Jahreseinkommen. Wie die nachfolgende Abbildung zeigt, betrifft dies überwiegend Menschen mit tiefen Einkommen – allerdings nicht ausschliesslich. Ab der mittleren Einkommensklasse gibt es kaum mehr Menschen, die Mühe haben, ihre Schuldzinsen zu begleichen.
Riskante Schuldzinsen (ohne Hypothekarzinsen) nach Einkommensklassen
Quelle: Verknüpfte Steuerdaten des Kantons Basel-Stadt, 2019, Berechnungen BFH 2023
Die Einkommensklassen (1.–10. Dezil) sind gemäss einer sogenannten Dezilseinteilung gebildet. Das heisst, alle Haushalte werden gemäss ihrem Haushaltseinkommen sortiert und in zehn gleich grosse Gruppen zusammengefasst. Das erste Dezil umfasst die einkommensschwächste Gruppe des Kantons, das zehnte Dezil die einkommensstärkste Gruppe.
Hypothekarzinsen
Weitere Risikoindikatoren fragen danach, ob Probleme bestehen könnten, Hypothekarzinsen zu begleichen. Über viele Jahre sind die Hypothekarzinsen stetig gesunken. So lag der Durchschnitt der festen Hypotheken über zehn Jahre im Juni 2013 noch bei 2,75% und im August 2019 bei knapp 1%. Die Teuerung und die darauf reagierenden Zinsentscheide der Nationalbank führten im Jahr 2022 allerdings zu einem rasanten Anstieg der Hypothekarzinsen bei langfristigen Hypotheken. Innerhalb weniger Monate stiegen diese um mehr als das Doppelte. Der Höchststand lag im Oktober 2022 bei 3,9%. Eigentümerinnen und Eigentümer mit auslaufenden Hypotheken müssen damit möglicherweise Hypotheken zu Konditionen erneuern, die über ihren finanziellen Verhältnissen liegen.
Dieser Logik folgend haben wir drei Indikatoren gebildet, die prüfen, ob die für einen Haushalt maximal verfügbaren Einkommen ausreichen, um Hypothekarzinsen von 1%, 2,5% oder gar 5% zu begleichen. Diese hypothetischen Zinsfüsse haben wir mit der erfassten Hypothekarschuld verrechnet. Gemäss unseren Berechnungen gibt es wenige Haushalte, die in einem Zinsumfeld von 1% bis 2,5% Mühe hätten, diese zu begleichen. Bei Hypothekarzinsen von 5% hätten jedoch 6,5% der Eigentümerinnen und Eigentümer resp. 1,7% der Erwerbsbevölkerung nicht mehr ausreichend deklarierte Einnahmen, um die Raten für ihre Hypotheken zu begleichen. Wie sich aus der nachfolgenden Abbildung beispielhaft für Hypothekarzinsen von 2,5% entnehmen lässt, hätten eher Menschen mit tiefen Einkommen Schwierigkeiten, aber nicht ausschliesslich.
Riskante Hypothekarzinsen (2,5%) nach Einkommensklassen
Quelle: Verknüpfte Steuerdaten des Kantons Basel-Stadt, 2019, Berechnungen BFH 2023
Amtliche Steuereinschätzungen
Der letzte Indikator setzt bei der amtlichen Steuereinschätzung an. Wurde keine Steuererklärung eingereicht, leitet die Steuerverwaltung die vermuteten Einkommen aus vorangehenden Steuererklärungen oder über Lohnausweise her. Wenn sich jedoch die Einkommenssituation z. B. aufgrund eines Stellenverlustes kürzlich geändert hat, kann es sein, dass die Steuern zu hoch angesetzt werden und so eine Steuerschuld resultiert, die mit den aktuellen Einnahmen schwierig beglichen werden kann. Die nachfolgende Abbildung zeigt, dass amtliche Steuereinschätzungen in allen Einkommensklassen vorkommen, aber bei Menschen mit tiefen Einkommen besonders häufig. Als riskante amtliche Steuereinschätzung (Indikator 8) definieren wir schliesslich jene, welche Personen aus den beiden tiefsten Einkommensklassen betreffen.
Amtliche Steuereinschätzungen nach Einkommensklassen
Quelle: Verknüpfte Steuerdaten des Kantons Basel-Stadt, 2019, Berechnungen BFH 2023
Erkennen von Quartieren mit den meisten Schulden und problematischen Hypotheken
In einer räumlichen Analyse werden die verschiedenen Arten riskanter Schulden nach Wohnquartieren ausgewiesen. Damit können Beratungsangebote gezielter auf die Problematik der Betroffenen ausgerichtet werden. Die nachfolgende Abbildung zeigt die in Abhängigkeit der Schuldenindikatoren auffälligen Quartiere. Riskante Schuldzinsen aus Privatschulden ohne Hypotheken finden sich überproportional in den Quartieren Klybeck und Kleinhüningen. Haushalte mit einem besonderen Risiko der Überschuldung aufgrund steigender Hypothekarzinsen finden sich insbesondere im Gotthelf-Quartier.
Riskante Privatschulden (ohne Hypothekarzinsen) nach Gemeinden und Quartieren
Quelle: Verknüpfte Steuerdaten des Kantons Basel-Stadt, 2019, Berechnungen BFH 2023
Riskante Hypothekarschulden (bei Hypothekarzinsen von 2,5%) nach Gemeinden und Quartieren
Quelle: Verknüpfte Steuerdaten des Kantons Basel-Stadt, 2019, Berechnungen BFH 2023
Versuche mit Algorithmen zur Früherkennung gefährdeter Haushalte
Algorithmen bieten ein grosses Potenzial zum Erkennen komplexer Zusammenhänge in grossen Datensätzen. Vorliegend wurde daher geprüft, ob mittels Analyse anonymisierter Steuerdaten (Basel-Stadt, 2016–2019) ein System zur Früherkennung von Haushalten mit einem besonderen Überschuldungsrisiko entwickelt werden kann. Dazu wurden konkret folgende Schritte unternommen:
- Definition einer Liste von Merkmalen, die zum Erkennen von Haushalten mit riskanten Schulden relevant sein können (Haushaltsmerkmale).
- Training eines Algorithmus («Random Forest»-Modell) mit diesen Haushaltsmerkmalen und anonymisierten Steuerdaten aus den Jahren 2016–2018 zum Erkennen von Mustern bei Haushalten mit riskanten Privatschulden (Indikator 3) und riskanten Schuldzinsen (Indikator 4).
- Prüfung, ob der trainierte Algorithmus in den Steuerdaten aus dem Jahr 2019 jene Haushalte mit riskanten Schulden erkennen kann, ohne dass man ihn wissen lässt, welche Haushalte effektiv Schulden in ihren Steuern deklariert haben.
Der Versuch zeigt ein Potenzial zur Nutzung eines datengestützten Systems zur Erkennung von Haushalten mit Schulden. Der Algorithmus erkennt 46 Personen mit riskanten Schulden und 198 Personen mit riskanten Schuldzinsen, ohne gewusst zu haben, dass diese in ihren Steuererklärungen tatsächlich Schulden deklariert haben. Bereits in dieser vergleichsweise einfachen Anordnung würde das System also einen Anknüpfungspunkt bieten, um betroffene Haushalte zu erkennen und sie bspw. mit der Information über vorhandene Beratungsangebote zu kontaktieren.
Die Auswertung zeigt jedoch auch die Grenzen des Versuchssystems mit den vorhandenen Steuerdaten. Eine Vielzahl der effektiv als Risikofälle eingestuften Personen werden vom Algorithmus nicht als solche erkannt. Die genannten 198 Personen mit riskanten Schuldzinsen entsprechen konkret nur 10,3% der effektiv vorhandenen Risikofälle. Die anderen 1’726 als Risikofälle deklarierten Personen in den Daten von 2019 bleiben vom Algorithmus unentdeckt. Hinzu kommen 34 resp. 126 Personen, in denen der Algorithmus ein Risiko riskanter Schulden oder Schuldzinsen erkennt, obschon diese gemäss den festgelegten Indikatoren nicht als Risikofälle gelten.
Erstaunlich ist auch, welche Haushaltsmerkmale für die Prognose von riskanten Schulden vom System als besonders wichtig erkannt werden. Überdurchschnittlich wichtig sind die Einkommensklassen, Wohnviertel, Nationalität, Altersgruppen und die Haushaltsgrösse. Etwas weniger wichtig sind Kenntnisse der Haushaltszusammensetzung, des Beobachtungsjahrs, des Erwerbsstatus (angestellt, selbstständig), der Beanspruchung von Bedarfsleistungen (Prämienverbilligungen oder Mietzinsbeiträge), Liegenschaftseigentum, Ermessensbesteuerung, Geschlecht und Sozialhilfebezug. Die Wichtigkeit der Merkmale unterscheidet sich nicht stark davon, ob wir riskante Privatschulden oder riskante Schuldzinsen vorhersagen wollen. Für beide Risikoindikatoren sind ähnliche Variablen wichtig.
Bedeutung von Merkmalen für die Schuldenprognose
Die gestrichelte Linie zeigt die durchschnittliche Prognosestärke des Modells zur Illustration, welche Indikatoren von über- und welche von unterdurchschnittlicher Bedeutung sind.
Quelle: Verknüpfte Steuerdaten des Kantons Basel-Stadt, 2019, Berechnungen BFH 2023
Weiteres Potenzial datengestützter Schuldenbeobachtung
Die vorgelegten Versuche einer Verknüpfung vorhandener Daten mit einem Fokus auf Steuerdaten haben ein vielversprechendes Potenzial für die Prävention und Früherkennung von Schulden offenbart. In einem umfassenderen Projekt könnten die hier skizzierten Indikatoren erweitert werden, um zum Beispiel auf riskante Schulden von Selbstständigerwerbenden einzugehen. Zudem könnten die Versuche mit den Algorithmen zu einem praktikablen Früherkennungssystem weiterentwickelt werden.
Die Auswertungen zu den Schuldenindikatoren und die Resultate beim Früherkennungssystem könnten mit detaillierter erhobenen und verknüpften Daten stark verbessert werden. Aktuell besteht die Einschränkung, dass die Privatschulden in den Steuerdaten nicht weiter aufgeschlüsselt werden. Ebenso ist bekannt, dass viele Armutsbetroffene mit hohen Schulden diese gegenüber den Steuerbehörden nicht abschliessend deklarieren. Da sie aufgrund geringer finanzieller Ressourcen keine Steuern bezahlen, scheint es hinfällig, Schulden umfassend geltend zu machen. Das Potenzial könnte bspw. durch eine Verknüpfung der Steuerdaten mit den Datenbanken der Schuldenberatungsstellen weiter verbessert werden.
Es bedürfte aber einer vertieften Diskussion bezüglich der rechtsstaatlich korrekten Umsetzung eines solchen Systems. Das Schuldenbeobachtungs-system müsste unbedingt so konzipiert sein, dass die Personenrechte, etwa in Bezug auf den Datenschutz, nicht verletzt werden. Dafür müsste bestimmt werden, welche behördliche Stelle das System betreibt. Zudem wären die konkreten Massnahmen zu klären, wenn eine Person im System als gefährdet
erkannt wird.