Erkenntnisse und Empfehlungen
Aus den Beiträgen dieser Publikation und deren Diskussion haben die Mitwirkenden in zwei Workshops eine Reihe von Empfehlungen zum besseren Umgang mit Schulden entwickelt. Diese werden nachfolgend aufgeführt, geordnet nach Interventionsformen und mit Nennung der Adressat:innen, denen in der Umsetzung eine zentrale Rolle zukommt.
Prävention und Forschung
Angesichts der vielfältig negativen Konsequenzen von Schulden ist es wichtig zu verhindern, dass sie überhaupt entstehen. Weil beim Entstehen von Schulden nicht vorhersehbare Lebensereignisse eine wichtige Rolle spielen, ist die Wirksamkeit von Präventionsmassnahmen zwangsläufig begrenzt. Durch eine Stärkung von Finanzkompetenzen und einen Fokus auf die Verhinderung der erdrückendsten Schuldenarten können jedoch Überschuldungen vermieden werden. Es bedarf auch zusätzlicher Forschung zu Schulden, damit ein besserer Umgang damit etabliert werden kann.
Empfehlungen | Adressat:innen |
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Direkten Lohnabzug für Steuern als Standard einführenSteuerschulden werden verhindert, wenn die Steuern vom Lohn abgezogen und von den Arbeitgebenden direkt an die Steuerverwaltung überwiesen werden. Für die Schuldenprävention erfolgskritisch ist, dass die Steuern automatisch vom Lohn abgezogen werden, wenn man sich nicht aktiv dagegen entscheidet (Opt-out-Lösung). | Arbeitgebende, |
Bezug von Prämienverbilligung und anderen Sozialleistungen fördernIn Basel-Stadt verzichten viele Personen unwissentlich oder wissentlich auf Sozialleistungen wie Prämienverbilligungen (19% verzichten), Mietzinsbeiträge (23% verzichten), Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen (29% verzichten). Ihre Budgets würden durch diese Leistungen entlastet, das Verschuldungsrisiko würde sinken. Daher sollten potenziell Anspruchsberechtigte aktiv auf ihre Rechte hingewiesen und allfällige Hürden für die Geltendmachung gesenkt werden. | Verwaltung, |
Finanzkompetenzen an Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene vermittelnDie Vermittlung von finanziellen Kompetenzen, insb. von Budgetkompetenz, schon im Kindes- und Jugendalter bildet einen wichtigen Grundstein zur Verhinderung späterer Verschuldung. Heranwachsenden und jungen Erwachsenen muss vermittelt werden, dass sie ihre finanzielle Situation in vielen Fällen selber beeinflussen können (finanzielle Kontrollüberzeugung). | Eltern, Schulen, Beratungsstellen |
Amtliche Steuereinschätzung verhindernNiederschwellige Angebote zur Hilfe bei der Steuererklärung verhindern amtliche Steuereinschätzungen und damit auch Steuerschulden. Bei Menschen, die ausschliesslich von Sozialhilfe leben, sollte der Austausch zwischen Sozialhilfe und Steuerverwaltung direkt erfolgen, sodass diese Personen keine amtlichen Steuereinschätzungen erhalten. Die Steuerverwaltung sollte telefonisch den Kontakt suchen mit Personen, denen wiederholt eine amtliche Steuereinschätzung droht. | Verwaltung, Beratungsstellen |
Forschung und Datenerhebung zu Schulden verbessernDie Verhinderung und Bekämpfung von sozialen Problemen ist auf Erkenntnisse verschiedener Forschungsdisziplinen angewiesen. In den Beiträgen werden vereinzelt Lücken aufgezeigt (bspw. Resilienzforschung). Forschung bedarf auch möglichst umfassender und detaillierter Daten, um die Hintergründe von Schulden, deren Entstehung und Folgen untersuchen zu können. Der Datenbestand über Schulden muss durch weitere Untersuchungen verbessert werden. Wünschenswert wäre eine detailliertere Erhebung über betriebene Forderungen und deren Gläubiger oder Schuldentypen in Steuererklärungen. | Hochschulen, Verwaltung |
Früherkennung
Damit sich gefährdete Personen nicht verschulden oder eine Verschuldung nicht in die Überschuldung führt, müssen Möglichkeiten zur Früherkennung von Schulden genutzt werden. Je früher jemand in finanziellen Notlagen unterstützt und im Umgang mit Verschuldung begleitet wird, desto wirksamer kann die Schuldenspirale unterbrochen werden.
Empfehlungen | Adressat:innen |
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Stigmatisierende Wirkung von Schulden durch Sensibilisierung abbauenVerschuldung ist oft mit Scham verbunden, weshalb wichtige Beratungsangebote oftmals nicht in Anspruch genommen werden – oder erst, wenn eine Überschuldung entstanden ist. Durch eine öffentliche Kampagne über Verbreitung und Folgen von Schulden sollte ein Beitrag an die Entstigmatisierung des Themas geleistet werden. | Verwaltung, Beratungsstellen |
Ämter und private Beratungsstellen für
| Verwaltung, Beratungsstellen |
Betreibungsämter und Inkassobüros sollen auf
| Betreibungsamt, Inkassobüros |
Datengestütztes Frühwarnsystem für proaktive
| Verwaltung, Hochschulen |
Schuldenberatung
Schulden führen zu existenziellen Ängsten und Überforderung. Betroffene Personen bedürfen einfach zugänglicher und professioneller Beratung und Begleitung beim Klären ihrer Rechte und Pflichten, bei der Kommunikation mit Gläubigern und Behörden und zur Vermittlung von Auswegen und Perspektiven.
Qualitätsstandards für professionelle Beratungsangebote schaffenEs sind einheitliche Qualitätsstandards und -kontrollen für die professionelle Schuldenberatung zu entwickeln, mit denen die Grundsätze in den Richtlinien des Dachverbandes Schuldenberatung Schweiz präzisiert werden. Wichtig ist die Gewährleistung eines ganzheitlichen Ansatzes, bei dem bspw. auch ergänzende Beratungen zur psychologischen Unterstützung vermittelt werden. | Beratungsstellen |
Professionelle gemeinnützige Beratung
| Politik, Verwaltung |
Zugänglichkeit von Beratungsangeboten für
| Beratungsstellen, Verwaltung |
Inkasso und Betreibungsverfahren
Wenn fällige Forderungen nicht bezahlt werden, können Gläubiger den Aufwand zur Geltendmachung an private Inkassofirmen übertragen oder aber ein Betreibungsverfahren einleiten. Die Inkassobranche sieht sich von Organisationen des Konsumentenschutzes und in der Politik immer wieder mit Vorwürfen bezüglich unlauterer Praktiken konfrontiert. Das Betreibungsverfahren ist abschliessend durch das Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs geregelt, wird aber auch immer wieder Gegenstand von Diskussionen.
Inkassowesen durch griffige Rechtsbestimmungen regelnAuf Bundesebene ist eine umfassende rechtliche Regelung des Inkassowesens wiederholt mit der Begründung gescheitert, dass problematische Praktiken bereits durch das Strafrecht (z. B. bei Nötigung) oder das Wettbewerbsrecht (z. B. Irreführungsverbot) sanktioniert werden. Eine entsprechende Rechtsprechung besteht jedoch kaum, was auf den Bedarf von griffigeren Schutzbestimmungen schliessen lässt. Für Schuldnerinnen und Schuldner sind spezialgesetzliche Bestimmungen zu schaffen, mit denen sie sich gegen unlautere Praktiken einzelner Inkassounternehmen schützen können. | Politik |
Bestimmungen des BetreibungsverfahrensüberprüfenVom Gesetzgeber werden regelmässig Anpassungen des Betreibungsrechts zur Diskussion gestellt, um Personen bspw. vor ungerechtfertigten Betreibungen und Einträgen im Betreibungsregister oder strengen Lohnpfändungen durch die Nichtberücksichtigung von Steuer- oder Prämienzahlpflichten zu schützen. Das geltende Recht ist vor dem Hintergrund der Forschung regelmässig auf seine Angemessenheit zu überprüfen. | Verwaltung, Beratungsstellen |
Schwelle für «stille» Lohnpfändung senkenEine Lohnpfändung ohne Einbezug des Arbeitgebers («stille» Lohnpfändung) ist heute nur mit Zustimmung der Gläubiger möglich. Es sollte im pflichtgemässen Ermessen des Betreibungsamts liegen, diese Möglichkeit zu gewähren. | Politik, Betreibungsamt |
Rechtsschutz
Ein starker Rechtsschutz bedeutet, dass geltende Bestimmungen ihre Schutzwirkung möglichst umfassend entfalten können. Die Einhaltung des Rechts soll nicht davon abhängig sein, dass ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, um es nötigenfalls vor Gericht durchsetzen zu können. Zudem sind die Rechtsnormen so auszugestalten, dass sie für überschuldete Personen keine zusätzlichen Nachteile oder Verschlimmerungen ihrer Situation mit sich bringen.
Schutzbestimmungen des Konsumkreditgesetzes (KKG) stärkenAggressives Werben für Kredite ist verboten und deren Vergabe ist an eine Prüfung der Kreditfähigkeit geknüpft. Was jedoch als aggressive Werbung gilt, bestimmt die Kreditbranche selbst, und es fehlt an klaren Regeln zur Aufsicht über die Kreditvergabe. Im KKG sollte vorgesehen werden, dass Gerichte die rechtlichen Vorgaben zur Kreditvergabe bei betreffenden Verfahren von Amtes wegen prüfen müssen. | Politik, Verwaltung |
Ratenzahlungen sollen Hauptschuld vor Zinsen und weiteren Kosten deckenBei der Rückzahlung von Schulden in Raten werden diese zunächst an die angelaufenen Zinsen und weitere Kosten angerechnet, bevor sie die Hauptschuld zu tilgen beginnen (Art. 85 Abs. 1 OR). Dies führt bei Überschuldeten zu ständig wachsenden Schuldenbergen. Die Bestimmung ist so anzupassen, dass eine Anrechnung von Ratenzahlungen auf die Hauptschuld vor Zinsen und weiteren Kosten möglich ist. | Politik |
Rechtsberatung und -beistand für überschuldete Personen verbessernDie Statistik zu den Betreibungen in Basel-Stadt zeigt, dass in den wenigsten Fällen ein Gericht inhaltlich über die Rechtmässigkeit von betriebenen Forderungen und deren Umfang entscheidet. Überschuldeten Personen ist durch spezialisierte Rechtsberatung eine rechtliche Überprüfung ihrer Schulden zu ermöglichen. In Gerichtsverfahren sind sie juristisch zu begleiten, was auch durch Personen ohne Zulassung als Anwältin oder Anwalt gemacht werden darf. | Beratungsstellen, Politik |
Existenzminimum
Auch überschuldete Personen, mit oder ohne Lohnpfändung, haben einen Anspruch darauf, dass ihnen ein soziales Existenzminimum belassen wird, damit sie ihre Grundbedürfnisse menschenwürdig decken können. Sie sollen sich bei korrektem Verhalten nicht für die Deckung ihres sozialen Existenzminimums zusätzlich verschulden müssen. Diese Forderung kann aktuell nicht in allen Fällen erfüllt werden.
Betreibungsrechtliches Existenzminimum überprüfenWas verschuldeten Personen bei Betreibungsverfahren als Existenzminimum belassen werden muss, wurde zuletzt im Jahr 2009 auf Grundlage einer unklaren Methode bemessen. Es ist Zeit, das betreibungsrechtliche Existenzminimum auf Grundlage einer wissenschaftlich fundierten Methode zu aktualisieren. Zudem sollen heute nicht berücksichtigte Ausgaben wie die (laufenden) Steuern berücksichtigt werden. | Politik, Betreibungsamt, Konferenz der Betreibungs- und Konkursbeamten |
Direktzahlungen durch das BetreibungsamtSteuern und Krankenkassenprämien sind auch während einer Einkommenspfändung geschuldet. Entsprechende Ausgaben sind daher nicht nur als Teil des Existenzminimums zu berücksichtigen, sondern zur Verhinderung weiterer Verschuldung aus dem Einkommen der verschuldeten Person durch das Betreibungsamt direkt an die Steuerverwaltung resp. Krankenversicherung zu überweisen. | Betreibungsamt |
Verschuldete Personen vor Wohnungsverlust bewahrenBei ausstehenden Mieten laufen verschuldete Personen rasch Gefahr, ihre Wohnungen zu verlieren. Die Konsequenzen von allenfalls folgender Obdachlosigkeit sind verheerend. Es sind öffentliche Mittel für die rückwirkende Übernahme von Mietzinsen zur Verfügung zu stellen, damit günstiger Wohnraum in begründeten Fällen erhalten werden kann. Als Massgabe soll die entsprechende Praxis der Sozialhilfe dienen. | Politik |
Existenzminimum auch bei Krankenkassenschulden garantierenBei Sozialhilfebezug werden 90% der kantonalen Durchschnittsprämie übernommen. Wenn höhere Prämienrechnungen bestehen, müssen Armutsbetroffene diese aus dem Grundbedarf bezahlen, der für Ernährung, Kleidung etc. gedacht ist. Bei ausstehenden Prämien können sie aber nicht in eine günstigere Krankenkasse wechseln. Die Praxis der Sozialhilfe ist entsprechend den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS anzupassen, damit keine solchen Härtefälle entstehen. | Verwaltung |
Perspektiven
Bei andauernder Überschuldung fehlt es betroffenen Personen vermehrt an Perspektiven für eine bessere Zukunft ohne Schulden. Der zunehmende Tunnel-
blick treibt die Schuldenspirale weiter und hat immer stärker auch gesundheitliche Konsequenzen. Auch die letztlich von der Gesellschaft zu tragenden Kosten nehmen damit stetig zu, bis sie in keinem Verhältnis mehr zu einer anfänglichen Schuldensumme stehen. Es sind daher Verfahren einzuführen und Massnahmen zu ergreifen, die auch überschuldeten Personen neue Perspektiven eröffnen und Motivation schaffen.
Verfahren zur Restschuldbefreiung einführenEin abgeschlossenes Betreibungsverfahren mit Verlustscheinen schützt zwar vor anfallenden weiteren Schuldzinsen, aber die Schulden selber und die Gefahr weiterer Betreibungen bleiben bestehen. Es ist ein Verfahren einzuführen, das überschuldeten Personen auf absehbare Zeit eine komplette Befreiung von Schulden ermöglicht – auch wenn sie keine oder nur eine sehr kleine Pfändungsrate haben. | Politik |
Durch Betreibungsaufschub die Motivation fördernVerschuldete Personen in der Sozialhilfe haben in der Regel kein Einkommen oder Vermögen, bei dem sich eine Betreibung für Gläubiger lohnen würde. Gleichzeitig haben sie nur einen reduzierten Anreiz zur Verbesserung ihrer Erwerbssituation, wenn sie damit rechnen müssen, dass ihnen nach einer Ablösung von der Sozialhilfe im Falle einer Betreibung wieder nur ein Existenzminimum zum Leben zur Verfügung steht. Durch einen Betreibungsaufschub bis drei Jahre nach Ablösung von der Sozialhilfe könnten die Anreize für Betroffene erhöht werden. Der Betreibungsaufschub sollte nur für Schulden gelten, die vor der Ablösung von der Sozialhilfe entstanden sind. | Politik, Betreibungsamt |
Kanton als Gläubiger soll auf Forderungen verzichtenDie Schuldenstatistik zeigt, dass mehr als die Hälfte aller Schulden dem Kanton geschuldet sind. Im Bereich der Steuerschulden besteht eine rechtliche Grundlage, dass diese ganz oder teilweise erlassen werden können. Im Bereich der Krankenkassenschulden wurde die Möglichkeit geschaffen, dass der Kanton von den Versicherern 90% der offenen Prämien übernimmt und die Versicherungen danach keine Ansprüche mehr einfordern können. Von diesen Möglichkeiten soll der Kanton Gebrauch machen und anschliessend einen (allenfalls teilweisen) Erlass dieser Forderungen prüfen (nachträgliche Prämienverbilligung). | Verwaltung |