Historische Fotografie in Basel
Eine bewegte Bilder-Geschichte
Der breiten Öffentlichkeit ist kaum bekannt, wie umfangreich und vielfältig das fotografische Kulturerbe Basels ist. Schon bald nach der Präsentation der Daguerreotypie – sie war das erste kommerziell nutzbare Fotografie-Verfahren – 1839 in Paris traten auch in Basel die ersten Fotopioniere in Erscheinung. Dazu gehörte der Uhrenmacher Emil Wick (1816–1894), der sich zunächst nur nebenbei auf die Fotografie verlegte. Bis 1861 soll er 35'000 bis 40'000 Daguerreotypien produziert haben. Die Herstellung einer Fotografie auf einer spiegelglatt polierten Metalloberfläche erforderte Wissen, Geschick und eine gewisse Experimentierfreude; das Ergebnis war teuer, äusserst fragil und nur als Einzelstück zu haben. Als wenig später mit dem Kollodiumverfahren und der Glasplatte fast unbegrenzt Abzüge hergestellt werden konnten, nahm die Anzahl produzierter Bilder sprunghaft zu. Hoch im Kurs standen Porträts im sogenannten Carte-de-visite-Format. Entsprechend wurde Fotografie auch als Geschäft interessant.
Bereits um 1860 hatten sich in Basel über ein Dutzend Fotografengeschäfte niedergelassen, aus denen eigentliche Fotografendynastien erwuchsen. Rasch breitete sich das fotografische Gewerbe aus und eroberte neue Anwendungsbereiche: Architektur, Kunst und Kultur, Industrie, Wissenschaft, Familie. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dann wurde die Fotografie dank Illustrierten und Pressefotografie endgültig zum bestimmenden Bildmedium. Dennoch blieb das Fotografieren bis weit über die Mitte des Jahrhunderts hinaus ein anspruchsvolles und teures Hobby. Erst ab den 1970er-Jahren machten günstigere Apparate mit einfacherer Bedienung das «Knipsen» über alle sozialen Schichten hinweg zur Selbstverständlichkeit und zum Kinderspiel.
Gesammelt und vergessen
Dieser dynamischen Entwicklung entsprechend umfasst das fotografische Kulturerbe in Basel, verteilt auf mittlerweile weit über hundert Institutionen, öffentliche und private Sammlungen, das gesamte thematische Spektrum sowie die ganze Bandbreite möglicher Anwendungsgebiete und technischer Ausprägungen. Die meisten Fotografien wurden mit Fokus auf Sammlungsschwerpunkte oder relevante Themen hergestellt und geordnet aufbewahrt. Eine private Sammlung wie diejenige von Ruth und Peter Herzog widerspiegelt individuelle fotohistorische Interessen. Die Sammlung der Gesellschaft für Volkskunde dokumentiert den historischen volkskundlichen Blick auf die Schweiz. Im Staatsarchiv wiederum findet sich wohl das breiteste Inhaltsspektrum von Fotografien aus staatlicher und privater Überlieferung.
Dieses reichhaltige fotografische Erbe erfuhr allerdings im Laufe der Geschichte schwankende Wertschätzung. Insbesondere bei den grösseren Institutionen wurden Sammlungen nicht nur vergessen und vernachlässigt, sondern unter Umständen sogar vernichtet. Viele Fotobestände wurden erst in den 1990er-Jahren wieder neu entdeckt und geschätzt. Und zwar aus gutem Grund.
Bilder für die Zukunft
Ob für unser Weltbild, für das kollektive Gedächtnis oder die private Erinnerung: Fotografie ist das visuelle Leitmedium des 19. und 20. Jahrhunderts schlechthin, aufs Engste verwoben mit unseren Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten. Seit jeher ist Fotografie auch ein privilegiertes Auskunftsmedium für historische Fragestellungen, gleichsam das Vehikel, das uns auf eine Zeitreise mitnimmt und unsere Vorstellung von Geschichte «bildet», schneller als jedes Wort oder jeder Gedanke. Trotz des digitalen Wandels, trotz aller Vorbehalte gegenüber dem Realitäts- und Wirklichkeitsgehalt von Fotografien ist der Zeugnis- oder Beweischarakter einer Aufnahme nach wie vor prägend. Wir haben uns daran gewöhnt, Fotografien produzieren und austauschen zu können; wir haben gelernt, Bilder zu lesen.
Die Wiederentdeckung der historischen Fotografie
Bis in die frühen 1990er-Jahre war Basels fotografisches Erbe kein öffentliches Thema. Dies änderte sich erst, als der Kanton 1990 den Nachlass der Fotografendynastie Höflinger erwarb – just zu einem Zeitpunkt, als die Epoche der analogen Fotografie zu Ende ging und gewissermassen von der digitalen Fotografie mit sofortiger Wirkung historisiert wurde. Dieser Umbruch in der Bewertung von Fotografie ist in einem grösseren Zusammenhang zu sehen:
- Vorhersehbar aber dennoch neu war die Erkenntnis, dass die physische Haltbarkeit der analogen Fotografie begrenzt ist. Ohne sachgerechte Behandlung und Lagerung droht der unwiederbringliche Verlust.
- Gleichzeitig wurde die Fotografie als Kunst- und Sammelobjekt immer begehrter und für den Kunstmarkt interessant.
- Der Basler Kunsthistoriker Gottfried Boehm sprach 1994 vom «iconic turn» und konstatierte damit eine grundsätzliche Verschiebung von der sprachlichen zur visuellen Information.
- Auch bei der Aufarbeitung der Geschichte des Zweiten Weltkrieges erwies sich die Fotografie als nützliche und wichtige, allerdings auch anspruchsvolle Quellengattung.
- An amerikanischen Universitäten wurde seit den 1990er-Jahren Fototheorie gelehrt. In unseren Breitengraden konstituierte sich der Fachbereich Fotogeschichte, es wurden neue Lehrstühle eingerichtet und es entstanden Zeitschriften, die sich intensiv mit der Fotogeschichte befassten.
Der politische Vorstoss
In Basel erwies sich der ungewöhnliche Ankauf des Nachlasses Höflinger im Jahr 1990 als Präzedenzfall für eine kulturpolitische Debatte über Wert und Erhalt historischer Fotografie. Es blieb allerdings in den Folgejahren bei punktuellen Aktivitäten. Das Sammlerpaar Peter und Ruth Herzog trat mit seiner Fotosammlung vermehrt an die Öffentlichkeit, das Staatsarchiv befasste sich mit der elektronischen Erschliessung von Fotobeständen. Vergleicht man dies mit den gesamtschweizerischen Aktivitäten einiger Pionierinstitutionen wie des Musée de l’Elysée in Lausanne und der sich in Winterthur neu etablierenden Fotostiftung Schweiz oder mit dem Engagement des Bundes für das audiovisuelle Kulturgut mittels der 1995 gegründeten Stiftung Memoriav, so blieb in Basel das Engagement der öffentlichen Hand disparat.
Eine breitere öffentliche Diskussion entstand erst 1998 mit einem politischen Vorstoss im Parlament von Felix W. Eymann, in dem Grossrat Eymann nach dem Verbleib und der Zukunft der noch vorhandenen privaten Fotonachlässe fragte. Das zuständige Wirtschafts- und Sozialdepartement hielt am 29. August 2000 in einem ersten Bericht an die Regierung fest, dass historische Fotografien kulturelles Erbe seien, «welches die verstärkte Aufmerksamkeit von Privaten und Staat rechtfertige», und dass es dazu einer Institution bedürfe, «die mit den entsprechenden finanziellen, personellen, räumlichen und technischen Ressourcen ausgestattet» sei. Der Anzug Eymann wurde zur definitiven Beantwortung stehen gelassen.
Die Interessengemeinschaft für historische Fotografie Basel
2001 gab das Staatsarchiv den Anstoss, mittels einer Enquête einen Gesamthorizont zu schaffen. Es wurde ein Gesamtbestand von circa vier Millionen Fotografien eruiert. Der Einblick in die Sammlungen zeigte, dass dringend fachlicher Support bei Aufbewahrung, Bewertung und Erschliessung und Digitalisierung der Bestände nötig war und ein grosser Bedarf an Vernetzung, Vermittlung und Austausch bestand. Als Reaktion darauf wurde 2001 die «Interessengemeinschaft für historische Fotografie Basel» gegründet, mit Vertretern der gewerblichen Fotografie, der öffentlichen und privaten Institutionen, von Stiftungen und der Universität. Ihr Ziel war es, eine Trägerschaft zu bilden, die sich auf breiter Basis um die dauerhafte Sicherung und die nachhaltige Vermittlung der historischen Fotografie bemüht.
Ausstellung, Publikation, Website
Auf Initiative des Staatsarchivs wurde nun ein Vorhaben mit Teilprojekten geplant. Unter der Leitung von Esther Baur und Jürg Schneider entstand die Ausstellung «Blickfänger» (Oktober 2004 bis März 2005). Sie zeigte publikumswirksam die Vielfalt und den Reichtum des fotografischen Erbes in Basel, sensibilisierte für die Bedeutung historischer Fotografie als schützenswertes Kulturgut und wurde von einem reichhaltigen Katalog begleitet. Die Website www.fotoarchive.org sicherte die Forschungsresultate.
Bilanz aus heutiger Sicht
Das Engagement des Staatsarchivs und vieler weiterer Akteure hat zwar nicht zum damals gewünschten Resultat einer Fachstelle für Fotografie geführt. Dennoch ist auf dem Hintergrund dieser Initiativen seither sehr viel passiert. Das Bewusstsein für historische Fotografie und die Sorgfalt im Umgang mit ihr haben sich deutlich verbessert. Das Wissen über Erschliessung und Konservierung von Fotografien ist heute verfügbar und erweitert sich laufend. Einige grosse Fotobestände und Nachlässe haben sich mittlerweile in bestehende Institutionen integrieren lassen, teilweise im Modell Private-Public-Partnership mit substanzieller Unterstützung von Stiftungen und durch die öffentliche Hand. Die Christoph Merian Stiftung hat mit namhaften Beiträgen entscheidend zur Sicherung von Fotonachlässen beigetragen.
Zu den aktuellen Herausforderungen zählt zum Beispiel die Online-Verfügbarkeit von digitalisierten Fotobeständen, die oft in einem Zielkonflikt mit dem Urheberrecht und den institutionellen Interessen einer Nutzung vor Ort steht. Auch erfordern die Digitalisierung und der Aufbau der notwendigen digitalen Infrastrukturen zur Speicherung und Verfügbarmachung der Fotobestände bedeutende Summen, die eine entsprechende Planung und Etappierung benötigen. Eine akute Gefahr stellt ausserdem der beobachtbare Zerfall von Nitrat- und Azetatträgern dar. Daraus ergeben sich hohe Anforderungen an eine passive Konservierung, die aber den Zerfall bestenfalls hinauszögern kann. Die Entwicklung gemeinsamer Lösungen ist bitter nötig. Welche Institutionen verfügen schon über die notwendigen gekühlten Magazine?
Die Vernetzung und Intensivierung der fachlichen Diskussion ist nicht nur sinnvoll, sondern notwendig. Im Bereich der Konservierung könnte eine intensivere Zusammenarbeit ein enormes Synergiepotenzial haben; dasselbe gilt für die physische Speicherung von Daten. Auch würde sich lohnen, in die verbesserte Wahrnehmbarkeit und Sichtbarkeit der gesamten Fotolandschaft zu investieren, gewissermassen ein System eigenständiger, aber vernetzter Satelliten in einem Fotouniversum zu fördern. Denn die Diversität der Fotosammlungen in Basel mit ihren so unterschiedlichen Schwerpunkten, Interessen und Expertisen ist eine besondere Stärke. Sie könnte zum ausgesprochenen Markenzeichen werden und Basel als Hot-spot der historischen Fotografie etablieren.