Das dreimal jährlich erscheinende Online Magazin RADAR der Christoph Merian Stiftung informiert über die Hinter- und Beweggründe des CMS-Engagements.

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Blick von aussen

Über das Zuhören, das Fokussieren und den Abschied vom Silodenken

Anita Fetz, Historikerin und ­Organisations­beraterin
«Verwaltet die Leute nicht, sondern hört ihnen zu!»

Anita Fetz, im Januar 2023 hielten Sie bei der CMS einen Vortrag, im Zuge der Erarbeitung des neuen Förderprogramms. Worum ging es?

Ich habe dargestellt, wie sich die städtische Gesellschaft in Basel zusammensetzt und wo ich wichtige Bedürfnisse und Problemfelder sehe.

Was war Ihre Hauptbotschaft?

Basel ist eine steinreiche Stadt mit einem hohen durchschnittlichen Einkommen – aber rund 20 Prozent der Bevölkerung haben daran kaum teil und fallen durch die Maschen unseres Systems. Auf politischer und institutioneller Ebene werden diese 20 Prozent zu wenig wahrgenommen.

Woran liegt das?

In den Institutionen und in der Politik dominiert eine akademische Elite. Diese Leute wollen zwar Gutes tun, aber sie kennen die Bedürfnisse der Menschen zu wenig.

Wie kann eine Institution wie die CMS Bedürfnisse erkennen?

Für staatliche wie private Institutionen gilt: Verwaltet die Leute nicht, sondern hört ihnen zu! Dabei helfen Umfragen und Recherchen vor Ort, da, wo die Menschen sich tatsächlich aufhalten. Der CMS gelingt das immer wieder gut: Ein Beispiel ist die 2017 publizierte Bedarfsanalyse zu sozialen Handlungsfeldern. So etwas sollte man regelmässig machen.

Wo sehen Sie selbst Handlungsbedarf?

15 Prozent der Jugendlichen in Basel haben nur einen Volksschulabschluss und besuchen weder eine Berufsausbildung noch eine weiterführende Schule. Das ist dramatisch, da sehe ich klaren Handlungsbedarf. Ein zweites Thema ist die Einsamkeit: Knapp die Hälfte der Bevölkerung in Basel lebt allein. Zudem sollte uns auch die Frage beschäftigen, wie wir mit einer alternden Gesellschaft umgehen.

Sie haben in Ihrem Referat den Begriff «Laboratorium des Wandels» verwendet. Was verstehen Sie darunter?

Unser Problem heute ist: Wir sind mit allem viel zu langsam. Um innovativ zu sein, müssen wir Methoden ausprobieren, die Prozesse dynamisieren.

Das klingt abstrakt. Können Sie das ausführen?

Wir brauchen Labore, wo man neue Formen von Dialog und Konfliktregelung ausprobieren kann. Dazu müssen wir verschiedene Menschen zusammenbringen. Etwa Fachleute und «Betroffene», wenn es um soziale Projekte geht. Und wir sollten Themen nicht nacheinander bearbeiten, sondern sie als grosses Ganzes denken. Armut, Gesundheit und Chancengleichheit zum Beispiel hängen zusammen. Ein Laboratorium des Wandels müsste es ermöglichen, Projekte rasch auf ihre Machbarkeit zu prüfen und sie in einem kleinen Rahmen zu testen. Dazu braucht es Infrastruktur und Know-how. Die CMS kann mit einem «Labor» die Entwicklung von innovativen Projekten ermöglichen und begleiten.

Finden Sie Ihre Inputs im neuen Förderprogramm wieder?

Ja, ich sehe vieles davon. Konkret gibt es im Förderschwerpunkt Zukunft die Handlungsfelder Labor, Entwicklung und Infrastruktur – all das braucht es für das von mir skizzierte Laboratorium des Wandels. Das Thema Einsamkeit sehe ich als Querschnitt-Thema, zu dem das Förderprogramm viele Zugänge bietet. Man kann ihm mit Projekten im Handlungsfeld Dialog und Nachbarschaft begegnen, aber auch, indem man es bei Psychische Gesundheit oder Armut mitdenkt. Auch die Infrastruktur spielt da eine wichtige Rolle: Beim Planen und Bauen lassen sich Gelegenheiten für Begegnungen schaffen.

Wie beurteilen Sie das neue Förderprogramm insgesamt?

Ich bin positiv überrascht. Es ist fokussiert, die einzelnen Teile sind relevant und hängen zusammen. Die CMS bleibt ihrem Stiftungszweck treu, hat sich aber etwas Raum «freigespielt», um ihre Unterstützung flexibler zu gestalten.


Zur Person.
Anita Fetz ist Historikerin und Organisationsberaterin sowie Inhaberin der Beratungsfirma «femmedia ChangeAssist». Der Öffentlichkeit ist sie durch ihre politische Karriere bekannt: Sie vertrat den Kanton Basel-Stadt von 2003 bis 2019 als SP-Ständerätin und politisierte davor im Nationalrat und im Basler Grossen Rat. Heute ist Anita Fetz Verwaltungsrätin der Rhystadt AG und Vorstandsmitglied des Online-Mediums Bajour.


Axel Schubert, Dozent für Nachhaltigkeit und Klimaaktivist
«Der Stiftungsauftrag hat Fokus und eine grosse Breite zugleich.»

Axel Schubert, bei Ihrem Input-Referat Anfang 2023 für das neue Förderprogramm haben Sie gesagt, die CMS sei für Überraschungen gut. Was haben Sie damit gemeint?

Die CMS nehme ich als eine für Basel wichtige, solide und beständige Stiftung wahr. Dass die von ihr geförderte Projektlandschaft im Detail so vielfältig, bunt und breit ist, überrascht mich immer wieder positiv. Gerade dort, wo sie neben Sub- und Hochkultur auch Organisationen für Sexarbeiterinnen, Migrant:innen oder Sans-Papiers unterstützt.

Was macht die CMS heute gut? Und was weniger?

Der Stiftungsauftrag hat Fokus und eine grosse Breite zugleich. Diese Breite birgt die Gefahr, dass die CMS allen gefallen will und ein Fokussieren schwierig ist. Vielleicht müsste heute – nicht zuletzt angesichts der Zivilisationskrise aufgrund der Erderhitzung – die Diskussion, was für unser Gemeinwesen von höchster Relevanz ist, noch entschiedener geführt werden.

Was sind Ihrer Ansicht nach die wichtigsten Herausforderungen für die Stiftungsarbeit?

Mit Blick auf die Erderhitzung mit all den Verwerfungen, die sie bringen wird und zum Teil schon bringt, sehe ich eine grosse Herausforderung, wie die CMS «neue» Themen wie Klimaschutz und Klimagerechtigkeit adressieren kann. Denn mit ihnen geht es nicht nur um Solidarität, sondern auch um Heimatschutz, die Bewahrung der Schöpfung oder das Sichern von Freiheitsvoraussetzungen. Sie sind für alle Förderschwerpunkte von Relevanz. Ist in der Dachstiftung der CMS vielleicht sogar Platz für eine «Stiftung für Klimagerechtigkeit»?

Welche Empfehlungen haben Sie an die CMS?

Die CMS könnte auf die erwähnten Themen noch entschiedener fokussieren. Sie sind von hoher Relevanz, auch wenn sie unsere gesellschaftlichen Handlungsroutinen heute noch nicht wirklich prägen.

Das würde aber einige enttäuschen.

Ich denke, da hilft nur Transparenz. Letztlich müsste auch nicht nur die CMS, sondern die gesamte Stadtgesellschaft viel mehr diskutieren, warum welche Herausforderungen heute prioritär anzugehen sind.

Wie beurteilen Sie das neue Förderprogramm der CMS?

Das Zusammenfassen in die drei Förderschwerpunkte und die zehn Handlungsfelder macht Sinn. Im Detail hätte ich mir jedoch den Mut gewünscht, dass Klimagerechtigkeit explizit benannt wird.

Was gefällt Ihnen am besten?

Das Handlungsfeld Labor. Es bietet Raum für neue Ansätze. Wie gelingt es beispielsweise in Basel, das Potenzial der Stadtgesellschaft zu aktivieren? Dass all die Menschen in Basel, mit all ihren Kompetenzen, selbst und aktiv an der anstehenden Transformation hin zu einem klimaneutralen, klimagerechten und lebenswerten Basel teilhaben?

Das Handlungsfeld Dialog und Nachbarschaft dürften Sie mit inspiriert haben, denn Sie machten sich auch für mehr gemeinschaftliches Miteinander stark.

Falls das so wäre, würde es mich freuen, auch wenn die CMS in dem Bereich ja auch schon aktiv ist. Aber ja – eine klimagerechte Welt ist sicherlich auch eine, in der Vorstellungen von Genügsamkeit und «Degrowth» in Verbindung mit einem besseren Leben zentral sind. Und das geht nur miteinander. Kooperative Strukturen und Netzwerke sind für eine resiliente Gesellschaft unerlässlich.


Zur Person.
Axel Schubert absolvierte ein Studium der Architektur und Stadtplanung. Seit 2021 hat er die Fachbereichsleitung Nachhaltige Raumentwicklung am Institut Nachhaltigkeit und Energie am Bau der FHNW inne. Zudem ist er Dozent für Nachhaltigkeit am Institut Architektur der FHNW. Früher war er unter anderem als Projektleiter im Bau- und Verkehrsdepartement des Kantons Basel-Stadt tätig. Er bezeichnet sich selbst als Klimaaktivist und ist Mitinitiant der «Klimagerechtigkeitsinitiative Basel2030».


Carlo Knöpfel, Professor für ­Sozialpolitik und Soziale Arbeit und Kolumnist
«Der Abschied vom Silodenken ist gut und notwendig.»

Carlo Knöpfel, welches Bild hatten Sie von der CMS, als Sie sich Anfang 2023 auf Ihr Input-Referat für das neue Förderprogramm vorbereitet haben?

Die CMS kenne ich als eine sehr wichtige Institution für das soziale ­Basel. Sie fördert und finanziert Angebote, die für vulnerable Menschen ein Mehr an materieller Sicherheit und Lebensqualität bedeuten.

Was macht die CMS heute stark? Was weniger?

Ich habe mich immer am Konzept der «Anstossfinanzierung» gerieben. Gute Projekte verdienen eine langfristige Unterstützung. Da hat die CMS in den letzten Jahren an Klarheit gewonnen.

In Ihrem Referat haben Sie ein ganzes Bündel von Gesellschaftstrends aufgezeigt, die für die Stiftungsarbeit von Bedeutung sein könnten, und entsprechende Anregungen formuliert. Zum Beispiel eine Unterstützung der Angebote zur sozialen Integration. Warum ist das so wichtig?

Die soziale Ungleichheit nimmt in Basel zu. Steigende Krankenkassenprämien und wachsende Wohnkosten treffen Menschen mit geringen Einkommen ungleich stärker als gut situierte Personen. Die breite Mittelschicht von einst weicht einer differenzierten Struktur: Da gibt es die neue Mittelschicht der Kreativen, die alte Mittelschicht der Handwerker und Gewerbler und immer deutlicher eine prekäre Schicht aus dem Dienstleistungsbereich, welcher der soziale Abstieg droht. Damit eine solche Gesellschaft nicht in Parallelwelten auseinanderdriftet, braucht es ein Mehr an sozialer Integration.

Abschliessend haben Sie in Ihrem Referat darauf hingewiesen, dass man in realen Sozialräumen denken müsse. Was haben Sie damit gemeint?

Basel ist das Zentrum des ganzen Oberrheinraums. Menschen bewegen sich in diesen Sozialräumen, etwa als Grenzgängerinnen und Grenzgänger, Theaterbesuchende oder Patientinnen und Patienten. Auch soziale Problemlagen entfalten sich darum grenzübergreifend. Hier braucht es eine bessere Zusammenarbeit zwischen den sozialen Institutionen der drei Länder Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Die Oberrheinkooperation fördert die länderübergreifende Zusammenarbeit. Sie hat verschiedene ständige Arbeitsgruppen, doch eine für das «Soziale» fehlt leider.

Was kann dabei die Rolle der CMS sein?

Hier könnte die CMS den Lead übernehmen und eine solche Kooperation der sozialen Organisationen und Institutionen aufbauen.

Wie beurteilen Sie das neue Förderprogramm der CMS?

Das neue Förderprogramm nimmt Abschied vom «Silodenken» und spiegelt einen systemischen, vernetzten, dynamischen Ansatz wider. Das ist gut und notwendig.

Können Sie Ihren Input irgendwo erkennen?

Der Förderschwerpunkt Zukunft zeigt, dass die CMS sich den rasanten gesellschaftlichen Veränderungen, auf die ich in meinem Input hingewiesen habe, stellen will. Ich freue mich, dass sie dabei bereit ist, auch mal ins Risiko zu gehen, um neuen Ideen für das «Soziale» eine Chance zu geben.

Dass die Armut als erstes Handlungsfeld aufgeführt wird, dürfte Sie als ehemaliges Geschäftsleitungsmitglied von Caritas Schweiz besonders freuen.

Freuen? Ich weiss nicht. Basel gehört zu jenen Städten in der Schweiz mit den höchsten Anteilen an Bezügerinnen und Bezügern von Sozialhilfe- und Ergänzungsleistungen. Die Caritas forderte in meiner Zeit, dass die Armut in der Schweiz zumindest halbiert werden müsste. Davon sind wir noch immer meilenweit entfernt. Ich bin darum froh, dass die CMS die Vermeidung und Bekämpfung von Armut weiterhin als wichtige Aufgabe versteht.


Zur Person.
Carlo Knöpfel absolvierte ein Studium der Wirtschaftswissenschaften. Seit 2012 ist er Professor für Sozialpolitik und Soziale Arbeit am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der FHNW. Früher war er unter anderem als Geschäftsleitungsmitglied von Caritas Schweiz tätig. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen und schreibt für das Strassenmagazin «Surprise» die Kolumne «Sozialzahl».


Miriam Glass führte das Gespräch mit Anita Fetz, Valentin Kressler interviewte Axel Schubert und Carlo Knöpfel.

Hier geht's zum Förderprogramm 2025 – 2028.