Ein zentrales Handlungsfeld der Sozialen Arbeit
Quartierarbeit
BEITRAG VON NADINE KÄSER - Dozentin am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW
Die sozialen Folgen globaler Entwicklungen treten auf lokaler Ebene besonders deutlich hervor. In den Quartieren sind beispielsweise die demografischen Veränderungen unmittelbar sicht- und spürbar. Gleichzeitig bieten Quartiere eine Vielfalt an Möglichkeiten, wie diesen Herausforderungen begegnet werden kann. So ermöglichen Quartiere oder Nachbarschaften die Entstehung sozialer Ressourcen, das sind beispielsweise Beziehungen, Netzwerke oder Gemeinschaften. Sie bieten identitätsstiftende Momente und wirken somit stabilisierend. Und dies in Zeiten, in denen bislang zentrale integrative Bereiche wie der Arbeitsmarkt oder die Kernfamilie ins Wanken geraten.
Quartiere und Nachbarschaften bieten Menschen in den unterschiedlichsten Lebenslagen sowohl Gemeinschaft als auch die Möglichkeit zum Individualismus, Nähe wie Distanz, Öffentlichkeit und Anonymität. Gerade diese Ambivalenz verdeutlicht, dass Quartiere vor allem durch ihre Bevölkerung, konkret durch deren Wertesysteme und Alltagspraktiken konstituiert werden.
Quartiere als soziales Produkt
Quartiere und Nachbarschaften existieren nicht per se, sondern sind sozial konstruiert und daher sehr vielfältig. Sie sind Produkte alltäglicher Vorstellungen, Handlungen und sozialer Beziehungen. Gleichzeitig dürfen Quartiere und Nachbarschaften nicht isoliert betrachtet werden, denn sie sind immer auch Teil eines grösseren Ganzen – einer Stadt, einer Region, eines Landes – und werden, wie bereits erwähnt, durch externe soziale, wirtschaftliche, bauliche und regulatorische Massnahmen beeinflusst. Dennoch ist die Definition von Quartier als soziales Produkt richtungsweisend, da sie bedeutet, dass die Arbeit im und am Quartier als Ko-Produktion verstanden werden muss. Eine Ko-Produktion, in der das lokale Wissen und die lokalen Bedürfnisse und Interessen wesentlich sind für gelingende Verständigungs- und Aushandlungsprozesse und folgerichtig alle «Betroffenen» zu «Beteiligten» gemacht werden müssen.
In diesen Aushandlungs- und Verständigungsprozessen spielt die Soziale Arbeit eine zentrale Rolle, denn sie befasst sich seit jeher sowohl theoretisch wie auch konzeptionell und praxisbezogen mit den Bedingungen des Aufwachsens, Lebens und Älterwerdens im Quartier. Ihre Aufgabe besteht darin, sich an der sozialen und räumlichen Gestaltung der Quartiere zu beteiligen und gemeinsam mit der Bevölkerung den Alltag in ihrer Umgebung zu gestalten. Aus dieser Perspektive hat Quartierarbeit in erster Linie eine anwaltschaftliche Rolle. Entsprechend macht sie auf die Themen sozial benachteiligter Menschen im Quartier aufmerksam, setzt sich für sie ein und ermächtigt sie, sich selbst für ihre Anliegen zu engagieren und ihre Rechte einzufordern.
Die Aufgaben der Quartierarbeit
Zudem stellt die Quartierarbeit Kommunikation und Kooperation zwischen den unterschiedlichen Akteur:innen her, sie koordiniert und vermittelt proaktiv zwischen Quartierbevölkerung, Vereinen, selbstorganisierten Gruppen, Stiftungen, Verwaltung, Politik, Investor:innen und weiteren Stakeholdern und fördert so den Dialog und die inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit.
Um diese zwei unterschiedlichen Rollen zu erfüllen, die anwaltschaftliche und die vermittelnde, werden in der Quartierarbeit im besten Fall stationäre und mobile Angebote kombiniert, wie etwa niederschwellige Begegnungsmöglichkeiten in Quartiertreffpunkten sowie aufsuchende Soziale Arbeit auf Spielplätzen und in öffentlichen Parks. Sowohl in Stadtteilsekretariaten oder Quartiertreffpunkten als auch in der aufsuchenden, mobilen Quartierarbeit initiieren und realisieren Fachleute zusammen mit lokalen Akteur:innen und der Quartierbevölkerung Veränderungs- und Gestaltungsprozesse. Sie mobilisieren die Bevölkerung, sich für eine bedarfs- und bedürfnisgerechte Gestaltung ihres Lebensumfeldes einzusetzen, indem sie ergebnisoffene, zielgruppengerechte sowie zeitlich und inhaltlich angemessene Partizipation ermöglichen. Übergeordnetes Ziel der Quartierarbeit ist es somit, die materiellen (z.B. bezahlbaren Wohnraum, Grünflächen), infrastrukturellen (z.B. Verkehrsberuhigung, Spielplätze) und immateriellen (z.B. Partizipation, Freizeit- und Bildungsangebote) Bedingungen zu verbessern, und das unter massgeblichem Einbezug der Quartierbevölkerung.
Anspruchsvolle Fragestellungen
Gegenwärtige Herausforderungen liegen hierbei, wie eingangs erwähnt, in den verschiedenen Formen des Wandels und deren Auswirkungen. Hinzu kommen die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen einer kapitalistisch orientierten Gesellschaft. Zudem ist die Quartierarbeit mit dem Dilemma konfrontiert, dass sich zwar die sozialen, ökonomischen und ökologischen Folgen globaler Verhältnisse auf lokaler Ebene zuspitzen, zugleich aber systemisch-strukturelle Probleme kaum auf Quartierebene gelöst werden können. Für die Zukunft der Quartierarbeit bedeutet dies, die aktuellen Themen, Anliegen und Bedürfnisse der Menschen im Quartier wahrzunehmen, auszuformulieren und sichtbar zu machen – mit dem Ziel, die lokalen Folgen der globalen Entwicklungen fassbar zu machen und die breite Vielfalt an Möglichkeiten und Ressourcen im Quartier konstruktiv zu nutzen. So sollen sich schliesslich die Lebensbedingungen der gesamten Quartierbevölkerung verbessern.
Der Beitrag der Wissenschaft
Auch die Hochschulen tragen hierbei eine zentrale Verantwortung. In der Forschung sowie in der Aus- und Weiterbildung setzen sie sich mit den lokalen Auswirkungen globaler Entwicklungen auseinander und tragen zu deren Bearbeitung bei; so auch das Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für
Soziale Arbeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Mit seinem Schwerpunkt Stadtentwicklung hat das Institut mit seinem interdisziplinären Team zahlreiche nationale und internationale Forschungs- und Dienstleistungsprojekte realisiert, in deren Rahmen Themen der Quartierarbeit erforscht und in die Praxis transferiert werden. Etabliert hat sich die Tagung «Soziale Arbeit und Stadtentwicklung», an der sich Fachleute aus Forschung und Praxis austauschen, vernetzen und das Handlungsfeld Quartierarbeit weiterentwickeln. Die nächste Tagung findet im Juni 2024 statt und beschäftigt sich mit den sozialen, politischen und ökonomischen Effekten der digitalen Transformation auf Quartiere und Nachbarschaften.
Quellen:
Becker, Martin (2020). Quartierarbeit als professionelle Soziale Arbeit zur Verminderung oder Verhinderung von Erfahrungen einer «Bürgerschaft 2. Klasse» aus sozialraumorientierter Perspektive. In: Bildungsforschung 1, S. 1–17.
Drilling, Matthias, Simone Tappert, Olaf Schnur, Nadine Käser, Patrick Oehler (2022). Nachbarschaften in der Stadtentwicklung: Idealisierungen, Alltagsräume und professionelles Handlungswissen. Wiesbaden: Springer Verlag.
Hinte, Wolfgang, Maria Lüttringhaus, Dieter Oelschlägel (2007). Grundlagen und Standards der Gemeinwesenarbeit: ein Reader zu Entwicklungslinien und Perspektiven. 2., aktualisierte Aufl. Weinheim: Juventa-Verlag.
Oehler, Patrick, Matthias Drilling (2016). Soziale Arbeit und Stadtentwicklung: Forschungsperspektiven, Handlungsfelder, Herausforderungen. 2. Aufl. Wiesbaden: Springer Verlag.
Vereinigung Berner Gemeinwesenarbeit (2015). Grundlagenpapier der vbg und des Jugendamts der Stadt Bern zur Gemeinwesenarbeit. Zugriff am 05.07.2023 auf: https://www.vbgbern.ch/die-vbg....
Arbeitsgruppe Quartierarbeit Plattform GSR (2016). Quartierarbeit in der Praxis, «was sie leistet und was sie braucht». Ergebnisse aus den vier Foren Quartierarbeit 2014–2016. Zugriff am 05.07.2023 auf https://docplayer.org/60865695...arbeit-in-der-praxis.html.